Der Meuchelmord
bis sie endlich ein freies Taxi heranrollen sah. Es hielt an, und sie stieg ein.
»Morries-Hotel, 39. Straße West.«
Der blaue Chevrolet war dem ersten Taxi bis zum Ende der Straße gefolgt. Dann fiel dem Fahrer plötzlich auf, daß sein Beobachtungsobjekt in gemächlichem Tempo dahinrollte, als suchte der Fahrer nach einem neuen Fahrgast. Als er es schließlich überholen konnte, sah er, daß es leer war. Fluchend griff er nach dem Autotelefon und meldete sich.
»Charlie an Zentrale. Habe meinen Fahrgast verloren, Sie ist mir entkommen. Nein, das ist jetzt nicht möglich.«
Sie hatte ihn geschickt wie ein Profi abgeschüttelt. Er bekam Anweisung, seinen Beobachtungsposten vor ihrer Wohnung wieder zu beziehen.
Als Elizabeth aus dem Taxi stieg, zögerte sie. Der Mann nahm den Fahrpreis und ein Trinkgeld entgegen und sah ihr dann zum erstenmal ins Gesicht. Seine Miene verriet mehr als der schäbige Eingang des Morries-Hotels.
»Viel Spaß«, sagte er und fuhr weiter.
In einem solchen Hotel war sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gewesen. Sie trat durch den Eingang, vermied es, Sex-Magazine und schmuddelige Fotos anzusehen, und blickte nur geradeaus. Am oberen Ende der schmutzigen Treppe hockte eine Art Hausmeister, blätterte in einem Magazin und stocherte mit einem Streichholz in seinen schlechten Zähnen herum. Auf einer Untertasse qualmte eine Zigarette. Daneben stand die leere Kaffeetasse, und der Tisch hatte dunkle feuchte Ringe. Er war ungewaschen und unrasiert und sah aus, als schliefe er üblicherweise in seinem Hemd. Er hatte zwar gehört, wie sie die Treppe heraufkam, und ihr auch einen raschen Blick zugeworfen, aber jetzt las er ungeniert weiter.
»Ich suche einen Mr. Keller«, sagte Elizabeth. Sie war selbst erstaunt, wie rasch ihr Herz klopfte. Erst jetzt wurde ihr bewußt, wie leicht man in einem solchen Haus überfallen und ausgeraubt werden konnte. Die Zeitung mit den dicken Balkenüberschriften senkte sich ein Stück, und sie erblickte schmuddelige Brillengläser.
»Hau ab«, sagte der Mund mit schlechten Zähnen. »Wir sind kein Stundenhotel.«
»Keller«, wiederholte Elizabeth. »Er kam am Freitag her. Bitte, es ist sehr, sehr wichtig. Ich weiß, daß er hier wohnt.«
Wieder senkte sich die Zeitung, diesmal ein wenig tiefer. Die kleinen Augen sahen sie durch die dicke Brille spöttisch an. Aber er sagte nichts. Elizabeth begriff. Sie öffnete ihre Handtasche. Sie hatte keine Ahnung, welches Trinkgeld hier erwartet wurde, aber sie gab ihm die größte Banknote, die sie bei sich trug.
»Hier haben Sie zehn Dollar«, sagte sie. »Und jetzt führen Sie mich bitte zu ihm.«
»Wie sieht er denn aus?« fragte der Mann. »Wir haben drei oder vier neue Gäste hier. Aber keiner heißt Keller.«
Elizabeth ärgerte sich über ihre eigene Naivität – natürlich würde er hier nicht unter seinem Namen absteigen.
»Er ist nicht sehr groß, aber kräftig gebaut«, antwortete sie. »Blond, blaue Augen. Kein Amerikaner.« Plötzlich verging ihr die Hoffnung. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Am liebsten hätte sie kehrtgemacht und wäre auf die Straße hinausgelaufen. Der Mann schob seinen Stuhl zurück. »Kommen Sie mit.«
Auf Kellers tragbarem Fernsehgerät lief eine Nachrichtensendung. Es ging in der Hauptsache um die Parade am darauffolgenden St.-Patricks-Tag. Keller saß davor und ließ sich keine Einzelheit entgehen. Der Sprecher erklärte den Ablauf des Gottesdienstes in der Kathedrale, er gab die Liste der Ehrengäste bekannt: der Bürgermeister von New York; der Gouverneur; Präsidentschaftskandidat John Jackson; der Vizepräsident, der selbst Katholik war – so ging es immer weiter. Der demokratische Kandidat Patrick Casey sollte dem Hochamt zum erstenmal in seiner politischen Laufbahn fernbleiben. Er hielt sich gerade zu einer Informationsreise in Mittelamerika auf. Dann kam der Sprecher wieder auf Jackson zurück: Er galt als das Sprachrohr der Weißen in den Südstaaten, wo man dem Katholizismus mit demselben abergläubischen Abscheu begegnete wie der Hexerei; seine Teilnahme an einem Hochamt sollte ihm zweifellos unter den bisher feindselig gesinnten irischen, polnischen und italienischen Bevölkerungsteilen Sympathien gewinnen. Während des Kommentars wurden mehrere Tagesschauaufnahmen von Jackson gezeigt: Jackson bei Versammlungen, Jackson händeschüttelnd bei einem Kongreß, Jackson mit seiner Frau und den vier Kindern.
Keller mochte sein Gesicht nicht. Es war schmal,
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