Der mieseste aller Krieger - Roman
Vergangenheit, die dir hätte Halt bieten können. Bis hin zu dem Tag, als du plötzlich anfingst, den Tod deiner leiblichen Großeltern zu untersuchen und dir diese Vergangenheit zu erfinden, die sich hinter dem Revolver verbirgt. Ich möchte dir von Sofanor und der Inglesa erzählen, aber ich werde nicht darum herumkommen, an dieser Stelle immer wieder über Flor zu reden, denn die Erinnerung an sie schiebt sich vor den Mord im Chanchoquín.
Benito, wir dachten, auch du seiest tot. Daher lief Flor in aller Entschlossenheit, die ihre Abstammung von Aymará und Basken verriet, gemeinsam mit anderen Müttern und Angehörigen los, um sich die Strafe abzuholen, die die diensthabenden Despoten für sie bereithielten. Fernab des Sandlochs, jenseits des Stacheldrahts, übergaben sie den Soldaten die Päckchen für ihre Söhne und Töchter, ihre Ehemänner oder Geschwister. Dann hieß es plötzlich, du seiest noch nicht geboren, Benito. Und wir müssten die Worte von Gott Alzamora abwarten. Wir nahmen die falschen Nachrichten dankbar entgegen.
Die Hunde bellten und kratzten am Gitter, als sie mich zum Bahnhof abführten. Sobald ich López-Cuervo II sah, war ich beruhigt und wollte mit ihm reden, doch das Gerangel mit den Militärs verhinderte das. Alles kam so unerwartet und mit solch geballter Wucht, dass ich vielleicht dachte, es bestünde keine Gefahr mehr. Es ist schwer, dir das zu erklären, Benito. Vielleicht glaubt man trotz allem in solchen Augenblicken noch an Gerechtigkeit. Man muss einfach daran glauben, um sich nicht so schutzlos zu fühlen. Wir stiegen in den letzten Waggon ein, voller Hoffnung, es ertönte ein Pfiff, und der Zug setzte sich ruckartig in Bewegung. Welch nie endende Erinnerung, Benito, diese Zugfahrt. Inmitten derer, die ihr Leid beklagten und anderer, die still in sich hineinschluchzten, inmitten fragender Blicke, die man auch dann noch vor Augen hatte, als das Licht ausging. Das Ticken der Uhr oder der eigene Herzschlag, das Flackern der roten Glühbirne, der Schein des Fegefeuers, all diese Bilder und Geräusche vermengten sich mit dem Gedanken an die Toten, die man an den Schienensträngen festgebundenen hatte. Oder die man aus einem Flugzeug über dem Ozean abgeworfen hatte. Es heißt, sie seien immer zu zweit ins Meer gestürzt, während das Flugzeug brummend über ihnen kreiste. Wenn ich all das jetzt von ferne durch den dichten Küstennebel betrachte, weiß ich kaum, wie ich mich daran gewöhnen konnte, und überhaupt, ich verstehe manchmal gar nicht, was ich mir dabei denke, dir eine schon tausendmal erzählte Geschichte ins Ohr zuflüstern, dir in deinen Träumen zu erscheinen und jedes Mal herbeizueilen, wenn du mich rufst.
Wie ein Riesenorchester, das zu unserem Abschied aufspielte, donnerte der Konvoi auf den holprig verlegten Schienensträngen los. Das schrille Kreischen der funkensprühenden Räder in den Kurven, im Zusammenspiel mit dem Rattern des Zuges auf den unebenen Gleisabschnitten, rief in mir das Bild eines eisernen Musikers wach, der mit seinem Taktstock die Sinfonie der letzten Reise dirigierte.
Coquimbo, März-September 1939
Die Inglesa stürzte regelrecht auf das Zimmer, kaum dass sie und Sofanor in der Pension angekommen waren. Sie verstaute rasch die Beute ihres Raubzuges unter dem Bett, dann hatte sie es eilig, ins Bad zu gelangen. Vor dem Spiegel knöpfte sie sich die Bluse auf und betrachtete ihre prallen Brüste, die Sofanor um den Verstand brachten. Unterdessen warf sich mein Freund aufs Bett, nach einer Weile aber, als die Inglesa sich nicht wieder blicken ließ, wurde er ungeduldig und ging zum Fenster hin. Draußen wirbelten ausgelassen tanzende Menschen Unmengen von Staub auf. Schließlich hatte er das Warten satt und brach auf, um sich unter das Volk zu mischen.
Kurz bevor sie für fast elf Monate verschwunden war, hatte es eine ähnliche Szene gegeben. Die Inglesa hatte sich ewig im Bad eingeschlossen, bis es meinem Freund seltsam vorkam.
»Was ist los, warum brauchst du so lange, um dich anzukleiden?«, fragte Sofanor.
Das hatte sie ihm übelgenommen, sie hatte geweint – niemand hatte sie zuvor oder danach jemals weinen sehen. Und in dem Moment war ihr nichts anderes eingefallen, als aus Paitanás zu verschwinden.
Früh an jenem Morgen glaubte ich, sie am Bahnhof gesehen zu haben, maß dem aber keine Bedeutung bei und ging weiter mit der Müdigkeit der schlaflosen Nacht in den Knochen. Als Sofanor gegen Mittag aufwachte, fand er das Bett neben
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