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Der Minnesaenger

Titel: Der Minnesaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
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der Lehmwand hing. Eine Handvoll Betten reihte sich aneinander. Für die Dauer des Aufenthalts verfügte jeder Kranke über ein schafwollenes Häubchen und Filzschuhe. Von der Decke baumelte eine Eisenkugel, die einen aromatischen Rauch verbreitete, um die strengen Körperausdünstungen zu überdecken.
    Ein Geistlicher mit dunklem Haar kam ihr entgegen. Die schönen Augen, die gerade Nase und das leicht hervorspringende Kinn harmonierten so eindrucksvoll, als wären sie von einem Bildhauer in Stein gehauen worden. Obwohl er schon weit über fünfzig Jahre alt sein mochte, hatte sein Körper nichts von der Elastizität der Jugend verloren. »Was kann ich für dich tun?«

    »Mein Name ist Judith. Agnes von der Adlerburg schickt mich.«
    »Einen Moment!«, sagte der Geistliche und sprang zur Seite. Er erwischte gerade noch den Arm eines Mädchens, das den Moment nutzen wollte, um durch den Hinterausgang zu fliehen. Es war nicht älter als zwölf oder dreizehn Jahre alt. Ihr Blick wirkte leer und abwesend; ihr Gesicht war so weiß, als wäre sie mehr tot als lebendig.
    Vater Lothar führte das Mädchen zurück zur Bettstatt, drückte es sanft auf die Matratze und deckte es bis zum Hals zu. Dann kam er zu Judith zurück und sagte: »Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll. Früher oder später wird sie mir entwischen.«
    Judith brauchte nicht zu fragen, was dem Mädchen fehlte. Es litt offenbar unter Seelenschwere und suchte einen Weg, um sich zu entleiben. »Vielleicht kann ich ihr helfen. Ich habe schon mehrere solcher Fälle behandelt.«
    »Nur zu«, sagte der Geistliche. »Agnes hat mir viel über dich erzählt.«
    Judith trat ans Bett des Mädchens, kniete sich hin und griff nach seiner eiskalten Hand. Mit den herkömmlichen Mitteln würde sie nichts ausrichten können. Sie müsste auf ihre besonderen Fähigkeiten vertrauen. Allerdings fürchtete sie die Reaktion des Geistlichen. »Vater, würdet Ihr mich bitte einen Moment alleine lassen?«
    »Nein«, sagte der Pfaffe. »Ich trage die Verantwortung und muss erst mit eigenen Augen sehen, ob du dein Handwerk beherrschst.«
    »Also gut!«, sagte Judith und legte dem Mädchen ihre Hände auf den Kopf und die Brust. Sie konzentrierte sich ganz auf ihre Empfindungen, und es dauerte nicht lange,
bis sie eine große Angst spürte. Das Mädchen hatte sich in sich selbst zurückgezogen und einen hohen Schutzwall um sich herum errichtet. Wie konnte sie dem Mädchen begreiflich machen, dass es viel zu früh war, um aufzugeben, dass es sich immer lohnte, den Kampf aufzunehmen, und dass die Welt auch viel Gutes bereithielt?
    Den Schutzwall dürfte sie nicht durchbrechen - so viel war klar. Das Mädchen würde nur noch misstrauischer werden und sich weiter zurückziehen. Vielleicht würde sie sich sogar so weit entfernen, dass sie unerreichbar werden würde und für immer verloren wäre. Nein, es machte mehr Sinn, das Mädchen an ihrer eigenen Welt teilhaben zu lassen.
    Judith schickte ihre Seele auf Reisen. Sie erinnerte sich an einen Sommertag, als sie noch ein kleines Mädchen war. Zwischen Pusteblumen, Löwenzahn und Gänseblümchen hatte sie im Gras gelegen. Vereinzelt waren Wolken am blauen Himmel vorübergezogen, und sie hatte so laut lachen müssen, weil ihr zotteliger Hund Stummelschwanz in einem fort ihre Zehen abgeleckt hatte. Später, sie war nicht viel jünger als das Mädchen heute, hatte sie mit einem Klosterschüler namens Hartmann im Heu gelegen. Dank seiner Erzählungen hatte sie zum ersten Mal begriffen, zu welchen ungeheuren Reisen ihr Geist imstande war. Die Erfahrung hatte ihr ein Gefühl von solcher Erhabenheit beschert, dass ihr die Welt viel schöner, bunter und zauberhafter erschienen war.
    Judith lenkte alle Zuversicht in ihre Finger. Das Kribbeln wurde nach und nach immer stärker. Sie konnte förmlich sehen, wie das Mädchen aufmerkte und sich ihre Seele belebte. Es entstand eine stumme Zwiesprache, ein
Austausch von Lebensströmen. Endlich fasste es Zutrauen und überwand den Schutzwall. Sie klammerte sich an Judiths Arm und brach in Tränen aus. Nach der völligen Teilnahmslosigkeit konnte dieser Gefühlsausbruch nur als Schritt zurück ins Leben gewertet werden.
    »Ist schon gut«, sagte Judith und streichelte ihr übers Haar.
    Vater Lothar starrte sie verwirrt an. Er hatte ihr Tun zwar beobachtet, konnte sich die plötzliche Wendung im Verhalten des Mädchens aber nicht erklären. Judith fürchtete schon Anfeindungen, Drohungen oder noch

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