Der Minus-Mann
mich erstmals vor Gericht, dort sagt man mir auch, warum ich in Haft bin.
»Zur Überprüfung der Identität und wegen Landstreicherei«, übersetzt ein Dolmetscher den Richter. Ich komme wieder auf die gleiche Zelle, dann schreibe ich an die Eltern. Einen Monat darauf bringt man mich in ein Jugendgefängnis, wieder in eine Einzelzelle. Ich werde zu fünf Monaten verurteilt, und mein Vater veranlaßt, daß mich der Psychologe abholt. Drei Tage später bin ich wieder im Gefängnis in Wien. Jugendstrafanstalt Wien – Hardtmuthgasse. Die sechs Monate vom Berufungsgericht sind fällig.
Schnüre in Preisschildchen einziehen, eintausendsechshundert Stück am Tag, das Pensum. Wöchentlich einmal kommt der Psychologe und führt Aufbaugespräche mit mir. Manchmal kommt Mutter, Vater nie. Später werde ich in die Anstaltsbibliothek transferiert. Ernst Zahn und Sven Hedin in hunderten Exemplaren, die Borgia-Trilogie darf nicht ausgegeben werden, ist Pornografie. Der Direktor heißt Sagl, und Hände in die Hosentaschen zu stecken während des Spaziergangs bei beißender Kälte, bringt drei Tage Absonderung in einer Einzelzelle im Keller mit Betonfußboden und sonst nichts darin. Die Beamten schlagen die Häftlinge mit dem Gummiknüppel und manchmal mit der Faust. Dann kommt Herr Ellmayr und lehrt die Häftlinge gutes Benehmen und aus welchen Gläsern Rotwein und aus welchen Sekt getrunken wird. Streitereien und Prügel, selten Samstagnachmittag dreißig Minuten Tischtennis vor der Gitterwand am schmalen Plateau neben dem Dienstzimmer der Etagen.
»Moch des, oda du kriagst ane in die Goschn«, sagen die Beamten, und dann werde ich entlassen und sehe den Vater wieder und Mutter … und den Psychologen, es ist Frühjahr 1961.
Gerede zu Hause, dann fahre ich in die Schweiz. Zürich, ein verregnetes Frühjahr, Akkordarbeit und Ly, das Mädchen vom Stadtrand, mit puritanischen Eltern und voll kindlicher Gier nach meinen Händen. Alle Tage weißer Rum und Whisky, dann habe ich sie soweit. Sie spreizt die Schenkel für einen anderen. Ich kassiere achtzig Franken. Sie ist verzweifelt, aber sie bleibt dabei. Mein Vater taucht auf, spielt wild, und etwas später habe ich eine Auseinandersetzung mit der Polizei. Ausweisung und Einreiseverbot für zehn Jahre. Ich lebe wieder zu Hause, dann anderswo, in Hotels, bei Bekannten. Mein Vater ist mein Feind. Mutter geht dabei kaputt. Das Frühjahr 1962 vergeht, nichts verändert sich.
1962
Der blaue Wald über dem verstreuten Ort, kleine Villen, satte Menschen, eisenhaltiges Mineralwasser, die häßliche Betonkirche, die Weinberge, eine laue Sonne – Betriebsamkeit.
In zwei Tagen ist ein Fest, ein Kirchtag. Auf einem Wagen festgezurrt ein langer entrindeter Baumstamm und lachende Menschen, Musik und Gekreische.
Sie trinken und reden und laufen neben dem Wagen her. Musik klingt aus Blech, und durch den Viadukt sieht man den Hauptplatz, Buden, Bäume, dahinter den Kurpark.
Der Baum wird behängt und gehoben. Die Begleiter verteilen sich auf Gasthäuser, Cafes und Espressos.
Er steht da und schaut ins Gedränge. Die Falte ist steil auf der Stirn im sonnenverbrannten Gesicht. Er ist siebzehn und schmal und unruhig. Neben ihm steht einer. Kleiner, mit mächtigen Schultern und winzigem Kopf. Die Arme sind wie Keulen, doch pendeln sie locker im Gehen. Sandfarbenes Haar, kurz geschnitten. Helle, fast wimpernlose Augen.
»Weißt du, wo sie ist?« fragt der Schmale.
»Nein, Heinz, ich weiß es nicht«, sagt der andere, »aber wir werden sie finden.«
Sie gehen die Treppe hoch ins Park-Cafe. Setzen sich auf Stühle. Mädchen reden am Nebentisch.
»Robert – such sie«, sagt Heinz leise.
»Dein Vater hat dir verboten …«, sagt Robert.
»Mein Vater hat mir vieles verboten – wenn du sie findest, bring sie her, ich warte hier«, sagt Heinz. Robert verläßt die Terrasse. Heinz bestellt ein Glas Wein und schaut gegen die alten Bäume.
… »ich habe dir verboten, mit Nutten zusammenzusein, erinnere dich, und ich habe dir versprochen, ich erschlage dich, wenn du dich wieder mit einer abgibst« … so hatte der Alte gesagt.
Der Junge streift die Asche von der Zigarette. Sie hat schwarzes Haar, es legt sich zärtlich um ihr schmales Gesicht.
Er bestellt ein Glas Wein. Das Treiben am Platz ist dicht und laut. Sinnloses, Buntes, marktschreierisch Grelles. Wie Segel spannen sich die Zeltwände über die Pulte. Gesponnener Zucker und türkischer Honig, Puppen und Knallfrösche,
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