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Der Minus-Mann

Der Minus-Mann

Titel: Der Minus-Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Sobota
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der Gefangenenhausgeistliche zur Messe. Zehntausend Bände, die Gefängnisbibliothek. Dreißig Ausgaben der ›comedia divina‹, vom Taschenbuch bis zum hundert Jahre alten Wälzer im Goldschnitt. Die Klassiker in tausend Bänden. Moderne Literatur in Spuren. Der Chef ist ein Oberkontrolleur, den nur seine Pension interessiert.
    »A Joa no, daun is soweid«, sagt er zu mir, und blättert begeistert in Wald-und-Wiesen-Romanen. Ich kann nicht einmal lachen über ihn. Es ist nicht zu ändern, ist es nicht zu ändern?
    »Würden Sie mir einen Artikel für die Hauszeitung schreiben«, sagt der Mensch im gutgeheizten Direktionszimmer zu mir. Der Geistliche hat eine Hauszeitung gegründet. Nach zwei Seiten der ersten Nummer lege ich das Blatt schweigend in den Mistkübel. Die Ministranten sind entsetzt. Es darf keine kritische Stellungnahme geben, keinen Sex, keine offene Diskussion über die Verwahrung, nichts. Traktätchen, redigiert von salbungsvollen, mildgesichtigen, katholischen Anstaltsgeistlichen. Einen Englischkurs möchte er durchführen. Siebzig Prozent können ihre Briefe und Eingaben nicht ohne Dutzende von Rechtschreibfehlern schreiben. Haben nur ihre, die hefenidiomatische Pariasprache. Solange eure Reformen das bringen, scheiße ich euch immer vollen Bauches darauf …
    Nach einer Woche habe ich die Schnauze voll.
    Noch vier Wochen. Ich sitze in der Zelle, verschlossen und unzugänglich. Ich will es nicht mehr wahrhaben, ein traniger Himmel, Satzfetzen und schlaffe Stunden.
     …und kann dem Gefangenen vor seiner Entlassung ein Ausgang von drei Tagen gewährt werden, wenn er in dieser Zeit wichtige, sein Fortkommen in Freiheit betreffende Dinge zu erledigen hat …
    So lautet der Gesetzestext. Im nach wie vor gut geheizten Direktionszimmer wird mir mitgeteilt, daß mein Ansuchen um Ausgang genehmigt ist.
    »Ich hole dich ab«, sagt sie zu mir beim Besuch. Drei Tage später um neun Uhr früh. Der Beamte sperrt das Gitter, die Stahltüre. Ich gehe den langen Gang, düstere Birnen leuchten matt. Auf Holzbänken sitzen wartende Besucher.
    Ich bin beklommen, finde sie beim Eingang. Stumm tastet sie mit den Blicken über mich. Das Vorjahr schwemmt ins Bewußtsein, zeigt Grenzen auf. Über das erste helfen Auto und Verkehr. Ich zünde mir eine Zigarette an. Sie fährt konzentriert. Ihre Hände liegen flach und ruhig am Lenkrad.
    »Möchtest du baden?«, sagt sie und weiß im selben Augenblick um die Wiederholung. Meine Hände stören mich. Ich bin eingedrungen in die Räume, und ich spüre es. Sie sieht es. Richtet ein Frühstück. Ich bade, wechsle die Kleider. Beim Essen sitzen wir entfernt. Die Situation ist dicht und kläglich.
    »Wie bist du, wie finde ich dich«, sagt sie leise. Ich hole die kleinen blauen Hefte mit den numerierten Seiten. Das Tagebuch aus dem Gefängnis.
    »Willst du zuhören?«, sage ich.
    »Ja«, sagt sie, und ich schaue auf langgliedrige Hände, geklammert auf den Lehnen des Stuhles.
    Sie hört, sucht die Kraft hinter den Worten, das erkennbare Ziel.
    Ich habe keines, aber ich kann das verbergen, die Routine des Lügners gegen sich selbst, ihre Bereitschaft, glauben zu wollen.
    »Solltest du diesen Dreck, diesen Irrsinn, diese Brutalität, solltest du das alles verarbeitet haben, sollte es möglich sein«, sagt sie in ihre Hände und legt sie vor das Gesicht.
    Ich habe es geschafft, und brausende Freude und Dankbarkeit sind da. Ich küsse über ihre Hände, ihre Haut duftet, und die Kälte ist fort. In das Jetzt gezwungene Träume. Stunden außerhalb der Zeit. Zärtlichkeit in weichste Nachgiebigkeit, atemloses Fließen ineinander, der eine blasse, zarte, geliebte, einzig mögliche Körper, vertrauter Atem und Ausschließlichkeit …
    »Nur nachts, nur in Bruchstücken habe ich zu hoffen gewagt, darum habe ich gewartet«, sagt sie.
    Verworrenheit und Lüge, Haß und in Papiertaschentücher gespritztes Begehren, es zerbricht. Ihr Schauen, es ist Liebe und verletzlich.
    Das ist es, das, du verbohrter, verrammelter Zuchthäusler, und es geschieht dir, dir. Spring nicht zurück in die Höhle und beginne Fragen zu stellen. Falle hinein, es ist Liebe. Das angstlose Lachen. Drei Tage, drei Tage … Es ist Glück, spürbar in Zärtlichkeit und Begehren, was weiß ich von Liebe? Ich wehre mich nicht mehr. Jede Stunde dieser Tage ist es fraglos und selbstverständlich.
    »Es ist mir nicht selbstverständlich, ich weiß, was es bedeutet, wieviel«, sagt sie.
    Drei Tage. Vergiß es. Es ist ein

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