Der Minus-Mann
Trakt. Mich schickt man auf C, erste Etage – Tütenkleben (Sacklpickn).
Dreihundert Säcke pro Tag. Allein auf der Zelle. Am Tag darauf das Weihnachtspaket von zu Hause. Drei Kilo sind erlaubt. Ein Rollschinken, Schokolade, Kekse, Wurst und vierzig Zigaretten. Die Fußlappen halten nicht warm. Nach dem Hofgang sind meine Zehen steif.
Der Stockchef kommt manchmal zu mir in die Zelle. Er sitzt am Bett, sieht mir beim Kleben zu und erzählt – von seiner Frau und warum seine Ehe kaputt ist. Weihnachten und Silvester passieren. Es schneit. Gegen fünf, nach dem Abendessen, krieche ich in die Decken. Der Raum ist eisig. Die Fenster schließen schlecht.
Alle vier Wochen darf ich einen Brief schreiben und einen empfangen. Alle fünf Wochen ist Besuch.
Mutter kommt und spricht von Weihnachten und daß ich mich anständig führen solle.
»Du mußt immer daran denken, daß man dir bei guter Führung doch ein Drittel der Strafe bedingt erlassen wird«, sagt sie.
»Ja, ich werde mich gut führen. Vielen Dank für das Paket«, sage ich. Fünfzehn Minuten sind rasch vorbei.
»Sie sind doch erst neunzehn. Schreiben Sie doch ein Gesuch um Übernahme in Jugendstrafvollzug. Dort könnten Sie einen Beruf lernen, bei dem Säckekleben schnappen Sie doch über«, sagt der Stockchef einen Monat später. Er sagt mir auch, an wen ich da schreiben soll.
Also – ›An das Bundesministerium für Justiz‹ – ich habe so und soviel Strafzeit zu verbüßen, und ich würde gerne für mein Fortkommen nach der Entlassung einen Beruf erlernen (Tischlerei – da gibt es die große Essenszulage für Schwerarbeit), deshalb ersuche ich um Übernahme in den Jugendstrafvollzug. Hochachtungsvoll, Datum und Unterschrift.
Einen Monat später werde ich dem Leiter der Jugendabteilung vorgeführt.
»Aha, Se woinoiso an Beruf bei uns learna«, sagt er in breitestem Dialekt.
Ich wiederhole sinngemäß mein Ansuchen. Er nickt einige Male.
»Guat, muagn kummans zu uns«, sagt er. Ich kann gehen.
Ich packe meine Habseligkeiten und ziehe drei Stockwerke höher auf C4. Wieder eine Einzelzelle. Ein Bett mit einem Strohsack.
Ein Klapptisch, zwei Hocker, ein Wandkästchen. Eine Waschschüssel, ein Wasserkrug für etwa drei Liter und die Klosettanlage. Ein abgedeckter, niedriger Vorbau neben der Tür. Darin ein Kübel. Der Kübel kann mit einer Stange in die Zelle gezogen und nach Gebrauch ca. einen dreiviertel Meter in die Wand geschoben werden. Vom Gang aus ist die Öffnung mit einer Eisentüre verschlossen. Zweimal am Tag werden von den Hausarbeitern die Kübel geleert. Im Zellenhaus ist immer ein Geruch von Urin und Scheiße, besonders im Sommer.
Wenn ich auf den Hocker steige, kann ich zum Fenster hinaussehen. Man sieht über die Mauer auf Siedlungshäuser, eine Tankstelle, ein Gasthaus und auf die vorbeiführende Triester Straße. In der Tischlerei ist kein freier Platz. Ich arbeite in der Spielwarenfertigung, montiere Schaukelpferde, Arbeiten, Hofgang, Essen – die Tage sind nicht voneinander zu unterscheiden. Die Hierarchie der Jugendabteilung:
Obenan der ›Direktor‹, Leiter der Abteilung, Jurist, Karrieremensch mit breitem Slang … »dein Schmäh hob i scho gschissn«, Choleriker und Showman – bei Differenzen zwischen den Wachen und Gefangenen manchmal auch auf seiten der Gefangenen – sofern es der Karriere nicht schadet.
Der Kommandant: hält sich für wichtig – ist nur geräuschvoll, alt und schwankt mondphasenabhängig zwischen Väterlichkeit und kindischer Bosheit.
Der Sekretär: schleimig, clever, Konfidentenprotektor – Weichtier in Uniform.
Der erste Stockchef: robust, schweigsam, nicht zu täuschender Filzer, Junggeselle, Vielfraß, korrekt.
Der zweite Stockchef: verhinderter SSler, Großmaul, Radfahrer, Schnurrbartträger, weiß alles, kann alles, eine größenwahnsinnige Null.
Der Anstaltsgeistliche: katholisch, Beamter, Rektor, Förderer des Honorarchristentums (wer zur Kirche kommt, erhält zwei Zigaretten) – zwergenhaft, mit Vorliebe für Schwulis, genauer für Pädophile.
Statisten: jüngere Beamte in untergeordneten Positionen.
Im April 1964 wird ein Platz in der Tischlerei frei. Man weist mir Hobelbank und Werkzeugkasten zu. An einigen Abfallbrettern lerne ich Zinken anreißen und ausstemmen.
Mutter kommt zu Besuch.
»Du mußt dankbar sein, daß man dir das ermöglicht«, sagt sie.
»Ja«, sage ich.
Dann verlegt man mich in eine Gemeinschaftszelle.
»Paß auf, spritz mir nicht ins Leintuch.«
Ein
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