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Der Minus-Mann

Der Minus-Mann

Titel: Der Minus-Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Sobota
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täglichen Spaziergang macht, an meinem Warteplatz vorbei. Ich brauche nichts zu erklären. Sie weiß das Geschehene bereits aus der Zeitung. Nach mir wird überall gefahndet. Die Gendarmerie kommt häufig zum Haus meiner Eltern.
    »Ich werde es deinem Vater sagen. Warte hier«, sagt sie. Spät am Abend holt mich der Vater mit dem Auto. Sein Gesicht ist verschlossen. »Warum bist du nur desertiert«, sagt er mehr zu sich selbst als zu mir. Ich schweige. Es gibt nichts zu sagen. Mutter weint und umarmt mich, dann ist sie plötzlich verschwunden.
    Ich bade, wechsle die Kleider.
    »Hier ist Geld und der Wagenschlüssel. Glaubst du, daß du weit kommst«, sagt Vater leise. Sein Gesicht, verkniffen, im Schatten der Lampe.
    »Ich weiß es nicht«, sage ich. Er gibt mir Geld – für meine Flucht – er. Die Linien in seinen Mundwinkeln sind schärfer, sein Haar ist gerade, wie mit dem Lineal gezogen, gescheitelt.
    »Danke«, sage ich. Er hebt nicht den Kopf, winkt ab.
    Ich gehe ins Schlafzimmer, packe einen Koffer.
    »Man hat uns gesagt, er ist hier«, sagt jemand.
    Diese Stimme – das ist Gendarmerie. Ich springe zum Fenster, zwecklos, neben der Gartentüre steht einer. Auf Mutters Schreibtisch liegt eine lange Papierschere.
    »Er war hier, aber … er ist weggegangen«, sagt der Vater. Der Alte lügt, lügt für mich. Oder es ist ein abgekartetes Spiel. Die Gendarmen sind im Vorraum. Schritte kommen auf das Zimmer zu.
    Wie ein Stilett halte ich die Schere vor mich. Der Gendarm tritt ein. Daneben mein Vater. Er kommt auf mich zu. In der Türe taucht ein zweiter Uniformierter auf.
    »Leg die Schere weg, oder wir schießen«, sagt der Gendarm und hebt die Waffe. Der Vater steht vor mir.
    »Ich bitte dich, mache nicht alles noch schlimmer. Denk an Mutter, das andere ist dir doch egal«, sagt er. Ich schaue in den Pistolenlauf. Ein böses, dunkles Loch. Ich gebe dem Vater die Schere, dann strecke ich meine Hände hin. Handschellen klicken. Es ist wieder vorbei, für diesmal wieder vorbei.
     
    Ein Mann erschießt J. F. Kennedy, an der Berliner Mauer werden drei Menschen ›auf der Flucht‹ niedergemacht. Austria verliert gegen Rapid 3:1, und ich bekomme die Anklageschrift.
    Anfangs habe ich herumgeredet, Märchen erzählt. Doch da war der Schuh, Pauls Aussage.
    Raub, Desertion – nach dem Gesetz ein Strafsatz von zehn bis zwanzig Jahren.
    Die Mutter besucht mich, dann Jutta.
    Die Verhandlung vor dem Schwurgericht dauert bis in den späten Abend.
    Die Urteile: Beide vier Jahre schweren Kerker und vierteljährlich ein hartes Lager. Zwei Tage hocke ich auf der Pritsche, dann nehme ich das Urteil an. Am 20. Dezember 1963 werden Paul und ich aneinandergekettet in die Strafanstalt Graz-Karlau überstellt.
    Ein kalter Tag. Gegen Mittag schließen sich Tor und Gitter der Hauptsperre hinter uns. Knirschender Schnee unter den Füßen, ein Tor. Ein langer, halbdunkler, modrig riechender Gang, eine Doppelgittersperre. Im ersten Stock betreten wir einen Raum.
    »Ausziehen, alle Sachen hierher auf den Tisch«, sagt der Beamte. Nackt warten wir. Arme heben, Beine spreizen, Sack in die Höhe – umdrehen, die Arschbacken auseinanderziehen. Tabak, Zigaretten und Toilettensachen können wir behalten. Alles übrige wird bis zur Entlassung ›amtlich‹ verwahrt. Gehen, durch ein langes, schlauchartiges Zimmer. Pulte und Regale links und rechts. Drei Decken, Leintücher, Löffel, Trinkbecher – dann Unterhose, Hemd, Fußlappen, Schuhe und Hose, Jacke und Überrock. Die Gefangenen hinter dem Pult starren uns auf Glied und Arsch. Später erfahre ich, wenn ›ein hübscher Junge‹ kommt, wird das sofort an alle Interessenten gefunkt. Wir kleiden uns an. Der Beamte führt uns in das Zellenhaus.
    Karlau – Männerstrafanstalt mit Jugendprovisorium.
    Sechshundert Männer und etwa einhundert Jugendliche verbüßen da Strafen zwischen einem Jahr und lebenslänglich.
    Der Bau des Zellenhauses ist sternförmig – drei Trakte. A – nach Norden. Im Krieg zerbombt, neu aufgebaut. Viermannzellen mit Fließwasser und WC. B-nach Westen, C-nach Süden, beide ohne fließendes Wasser und WC. Der Gemeinschaftstrakt mit Verwaltung und Spital nach Osten.
    Der Beamte sperrt Paul und mich in eine Zelle im C-Trakt. Mittagessen. Zerbeultes Blechgeschirr (Schekeln – im Gefängnisjargon), Suppe und Bohnen. Nachmittag ist Rapport beim Direktor. Er redet von ›Arbeitspflicht‹, von Gehorsam und Disziplin. Dann erfolgt die Einteilung. Paul geht in einen anderen

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