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Der Minus-Mann

Der Minus-Mann

Titel: Der Minus-Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Sobota
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dich das wirklich interessieren würde, du Breitarsch, würdest du mich dann ständig in dieses eisige, dreckige Loch verbannen … du heuchlerische Mißgeburt, du impotenter Schwachkopf … vier Tage, sechzehnhundert Gramm speckiges Schwarzbrot und ›zum Trinken wird Wasser verabreicht‹, heißt die Zeile in der Hausordnung … spiel keinen Seelensanitäter, ich scheiß auf dein schleimiges Gequatsche. Drei Fasttage in der Woche erlaubt das Gesetz, mit einem normalen Tag dazwischen. Also begrüßt mich der Faltige Montag, Mittwoch und Freitag und am Montag darauf.
    »Steigen Sie einmal auf die Waage«, sagt der Arzt beim Arresttauglichschreiben. 69 Kilo.
    »Für einsneunzig etwas wenig«, sagt er, dann schreibt er etwas auf meine Karte.
    »Nach Weihnachten nehme ich Sie ins Spital auf«, sagt er. Ich gehe … in den Arrest … die vier Fasttage machen.
    Vater kommt zu Besuch, nach langer Zeit. Tiefe Säcke unter den Augen. Ruhig reden wir eine halbe Stunde. Er hat auch das Paket gebracht.
    Beim Abschied habe ich den Eindruck, er ist weicher als früher. Weihnachten – der Tag, ein Name, ein Abend. Für einige ein heiliger, für die meisten ein bedeutungsloser. Ich erlebe ihn wie den Haufen aller Tage. Vielleicht ist die Anhäufung von Gestank und Dreck, von Lärm, Brutalität und Sinnlosigkeit gemildert, die Gesten der anderen Gefangenen vertrauter, die Konturen der Gitter ferner, undeutlicher … oder ist es nur eine Laune meiner Gedanken …
    Ich bin versucht, dieser Scheiße andere, neu zu erfindende Namen zu geben … aber dann ist es zu spät, die Decke über dem Kopf, liege ich zur Wand gedreht. Ins Dunkel horchend, fließt Ruhe aus dem Gehirn zu den Fingerspitzen …
     
    Am 27. Dezember packe ich den Binkel, ziehe in das Spital in eine Einzelzelle. Alles blendend weiß, warm. Ich liege auf dem Bett, lese. Das Rauchen wird toleriert. Zwei Tage später holt man mich am späten Abend. Mutter steht blaß im Besuchszimmer. Sie streckt mir die Hand entgegen.
    »Vater ist tot«, sagt sie und klammert die Arme um mich.
    Vor wenigen Tagen saß er mir da im selben Raum gegenüber.
    »Wie ich damals in Rußland gehört habe, daß ich einen Sohn habe … habe ich mir gedacht, ich müßte sein Freund werden, aber wir waren nie Freunde … nie … seltsam wie sehr man sich doch daran klammert, vielleicht habe ich noch Zeit … ich hab’ eine Menge falsch gemacht … du hattest ja nicht einmal einen Vater … manchmal weiß ich nicht, ob mir noch genug Zeit bleibt …«, das sagte er.
    Ich war erstaunt, war der Alte einsam, alt, weich geworden, aber seine Stimme war sehr ruhig und seine Augen waren klar und fest gewesen. Er hatte nicht mehr genug Zeit gehabt, hatte den Weg zu mir also doch gehen wollen. Weiß Gott, ich hatte ihn gehaßt, aber da war nichts mehr von dieser Abneigung, etwas ganz Bestimmtes fehlte plötzlich, etwas sehr Wichtiges.
    »… er wurde sofort ins Krankenhaus gebracht, aber der Anfall war zu stark, seine Kranzgefäße sind geplatzt, er ist an seinem Blut erstickt, das Nikotin … ich habe es ja immer gesagt«, sagt Mutter. Sie weint leise. Sinnlos streicht ihr Arm über meinen weißblau gestreiften Spitalskittel. »Jetzt habe ich nur noch dich, du mußt immer daran denken, wie sehr ich auf dich warte«, sagt sie.
    Durch das nächtliche leere Zuchthaus gehe ich den langen Weg durch das gesamte Zuchthaus. Die Absätze des Beamten an meiner Seite knallen auf den Fliesen. Er ist tot … jetzt ist er tot …
    Die Riegel an meiner Zellentüre werden zugeschoben. Ich gehe zum Fenster. Es hat vor wenigen Tagen geschneit. Die Schritte des Nachtpostens knirschen auf der bleichen Fläche. Die Nacht ist klar und kalt. Sterne glimmen, winzige Lichtscherben.
    Er ist tot. Ich setze mich auf das Bett, drehe eine Zigarette. Rauchend schaue ich gegen das sterile Weiß der Wand. Die Hände am Gesicht, erwarte ich den Tag.
    Auf die Ausführung zum Begräbnis – mit Handschellen und zwei uniformierten Beamten – verzichte ich.
     
    Milch, Eier, Weißbrot, Fleisch, Salate, Zucker und Ruhe, Liegen und Nichtstun, keiner ist da, treibt an, fordert, befiehlt, schreit. Die Mastkur schlägt an. In drei Wochen nehme ich sieben Kilo zu.
    »Jetzt haben Sie noch sieben Monate, die schaffen Sie spielend«, sagt der Arzt bei der Entlassung aus dem Spital.
    »Ost E 9«, sagt der Beamte beim Überqueren des Hofes.
    »Ich möchte aufs Kommando geführt werden«, sage ich zu ihm.
    »Des mochns ihna daun mitn Stockchef aus«, sagt

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