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Der Minus-Mann

Der Minus-Mann

Titel: Der Minus-Mann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz Sobota
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Schreibtisch gelegt und totgevögelt … sind sie verrückt, mit solchen Röcken hier aufzutauchen …
    »Sie haben die Frau Amtsrätin sehr gekränkt. Sie hätte Ihnen eine Menge Ratschläge geben können«, sagt die Fürsorgerin am nächsten Tag.
    »Malen Sie noch ein Bild, bevor Sie gehen«, sagt der Psychologe. Schwarzer Himmel, eine graugoldene Sonne, eine violette Erde, weiße Bäume stehen am Rande eines grünen Sees …
    Einhundert Stunden noch … Blaukraut und Röstkartoffeln, abends den Kamasutra, mit geschwollener Eichel drehe ich mich der Nacht zu …
    »Ich möchte dich so gerne abholen«, sagt Mutter.
    Nein, ich möchte aus diesem Haus allein hinausgehen … möchte die ersten Stunden für mich sein … möchte mich frei bewegen … sitzen, stehen, gehen irgendwohin … niemand sieht mehr durch eine Türe, sperrt mich in Räume, bewacht, bedroht mich mit Waffen und Mauern und Gittern und Essenentzug …
    Für mich sein … für mich …
    Sie würde es nicht begreifen können …
    »Jeden Tag habe ich für dich gebetet, jetzt kommst du …«, sagt sie. Ihre Tränen rinnen lautlos auf die Hände.
    »Gut, dann hole mich ab. Sonntag, sechs Uhr abends«, sage ich langsam, dann sehe ich zum Fenster und den Farben dahinter.
    Feuchte Hände, drei Stunden, dann habe ich es geschafft. Unwichtige Besitztümer, Zigaretten, Kaffee usw. habe ich aufgeteilt. Es ist Sonntag, die Sonne glüht in den Gefängnishof. Ich gehe auf und ab, wie ich es die Jahre über gewohnt bin. Was da draußen wartet, ist Nebel – ich kann es mir nicht vorstellen. Da steht dann keiner hinter mir, da ist es egal, ob ich eine Stunde wo lehne, einfach gar nichts tue, bloß so sitzen, schauen, niemand befiehlt, ordnet an – Scheiße –, ich kann mir das gar nicht ausmalen. Oder wie es sein wird, ein Mädchen anzugreifen – tausendsiebenhundert Tage ohne Frau liegen hinter mir –, die Hände bleiben feucht, ich wasche sie zum drittenmal in dieser Stunde mit Seife, dann reibe ich sie trocken. Ruhig, mein Junge, dreh jetzt nicht durch. Ich stehe bei der Türe, dann neben dem Fenster. Mutter kommt mich abholen, ich konnte es ihr nicht abschlagen, sie hat niemanden. Die ganzen Jahre war sie mich besuchen, hat immer Geld dagelassen und Pakete geschickt, nun will sie mich eben bei sich haben. Ich habe es nicht ablehnen können, ihr einfach nicht sagen können: Mutter, ich bin nicht mehr der Junge, der ich vor fünfeinhalb Jahren war, ich war eingesperrt, verdammt lange, komme aus einer anderen Welt, die verstehst du nicht, die kannst du auch nicht verstehen. Das, was du kennst an mir, ist kaputt, ist nicht mehr da. Das klebt an den Gittern oder an den Wänden der Korrektionszelle, oder ich hab’ es weggeflucht oder ins Scheißhaus gespritzt – es ist anders, Mutter, als du es verstehst, aber wie dir das erklären … in deine guten Augen, in dein Hoffen, deine Gebete … ich kann es dir nicht sagen.
    Um sechs Uhr abends holen sie mich. Zwei Beamte.
    »Kommen Sie. Umziehen«, sagt der eine.
    Ich gehe zwischen ihnen. Die Privatklamotten. Der Anzug von vor fünf Jahren, Schuhe, Hemd, Krawatte.
    »Hier, unterschreiben Sie Ihr Entlassungsgeld«, sagt derselbe Beamte. Vierhundertvierundzwanzig Schilling und achtzig Groschen. Das ist alles – nach vier Jahren. Ich unterschreibe.
    »Sind Sie fertig?« sagt der andere.
    »Ja.«
    Einer geht vor, der andere hinter mir. Ich klopfe im Vorbeigehen gegen einige Zellentüren. Jetzt hocken sie in ihren Zellen und warten, bis mein Schritt verklungen ist. Die schwere Stahltür wird aufgesperrt, dahinter noch eine, ein langer Gang, die Treppen, ein Stockwerk hinunter, die Innentüre, die Außentüre – Ich-atme-bloß-tief-ein – hinter mir dreht sich ein Schlüssel im Schloß.
     
    Gar nichts ist, etwas flau um den Magen, sonst nichts. Für diesen Augenblick habe ich jahrelang Scheiße gefressen, alles hineingeschluckt, auch wenn es manchmal nicht mehr gehen wollte, es mußte gehen. Jetzt stehe ich da und blinzle in die Sonne.
    Von zwei Seiten kommen Menschen auf mich zu. Von links Mutter, von rechts zwei Freunde, ehemalige Sträflinge, die mein Entlassungsdatum wissen. Keine Frage, wohin ich gehen sollte – ich spreche ihre Sprache, denke ihre Gedanken …
    Ich umarme Mutter, dann wende ich mich an die beiden.
    »Ihr seht meine Mutter …«
    »… ist klar, schade, wir haben uns eine Menge für dich ausgedacht. Das hast du nicht gewußt, aber wir haben ziemlich gewartet auf dich. Na, macht nichts, auf alle

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