Der Minus-Mann
Fälle schön, daß du wieder heraußen bist, tschau.«
Wir schütteln uns die Hände, einen Moment schaue ich ihnen nach. Klar, das wäre mein Weg – dann drehe ich mich um, Mutter streckt mir die Hände entgegen, als wollte sie mein Leben zerquetschen. Bei entfernten Verwandten, jungen Leuten, hat sie mein ›Welcome‹ arrangiert. Ich kenne den jungen Mann von vor langer Zeit; während der Fahrt zu der Wohnung außerhalb Wiens redet Mutter, manchmal er, ich nicht. In der Wohnung warten die Frau und Jutta, sie wurde auch zur Feier des Tages aufgeboten. Ein herrlich gedeckter Tisch, viel Besteck, fünf Jahre durfte ich bloß mit dem Löffel essen. Alle sehen mich betont nicht an.
Meine Hände sind feucht, wie zwei Stunden davor. Ich versuche dankbar zu sein. Es gelingt mir, wenn ich Mutter ansehe. Sie ist froh. Ihr Gesicht ist jung. Jutta starrt mich an.
»Du bist ein Mann geworden«, sagt sie.
Vielleicht bin ich das geworden. Ich glaube es bloß nicht. Hinschlagen können, wochen- und monatelang zu hocken, ohne das geringste zur Ablenkung zu haben, den Haß, die Sehnsucht ertragen lernen, zwischen fünfhundert Knastschwulen, ohne zu verrotten, durchzulavieren – nein, da gehört mehr dazu.
»Ja, ich hoffe es«, sage ich.
»Du hast doch ein Vorbild, einen Mann wie deinen Vater«, sagt die junge Frau.
»Ja, wie mein Vater«, sage ich, dann gehe ich in den Garten, die junge Frau kommt mir nach. Sie hat volle Brüste, das Licht in ihrem Rücken zeichnet die Silhouette ihrer langen Beine bis zum Punkt, wo sich ihre Schenkel schließen. Mein Mund ist trocken, die Hand mit der Zigarette zittert.
»… dein Vater war ein wunderbarer Mensch. Er hat so viel für dich geplant, deine Mutter wird es dir dann erzählen. Ich möchte dir einen Kuß geben … ich darf doch.« Sie beugt sich zu mir, legt die Hände um meine Schulter, streckt sich auf die Zehenspitzen, »du bist so groß«, ihre Lippen sind warm und weich und trocken.
Meine Muskeln sind hart, unwillkürlich habe ich einen Schritt zurück gemacht, lehne nun gegen eine Hausmauer, meine Haut brennt. Es ist gut, daß es dunkel ist.
»Danke, daß ihr mich so lieb aufgenommen habt.« Meine Stimme zerbricht an den Worten. Ich gehe an ihr vorbei ins Zimmer. Mutter bringt mir ein Glas Mineralwasser.
»Er ist so vernünftig. Er beginnt gar nicht mit dem Alkohol.« Ich halte das Glas. Davon habe ich nichts geahnt. Ich stelle in einem unbeobachteten Augenblick das Glas zu Seite, flüchte in die Musik, die aus zwei Lautsprechern dringt. Stereo – etwas Neues für mich. Ich spüre Juttas und Mutters Augen ständig in meinem Rücken. Ich will aufstehen, fortgehen – für sie ist es richtig. Ich bin da, sie können mich ansehen. Gegen zehn sagt Mutter, sie ist müde. Mutter, Jutta und ich schlafen im Wohnzimmer. Jutta und Mutter auf der breiten Couch, ich auf einer schmalen. Mutter setzt sich an den Rand des Bettes, möchte noch reden.
»Danke«, sage ich und, »wir werden es schon schaffen, wir beide, hm.«
Sie weint dann wieder und geht. Ich drehe mich zur Wand, lange horche ich hinein in das fremde Dunkel. Ach ja, ich bin frei.
Am nächsten Tag treffe ich am Vormittag die Fürsorgerin der Strafanstalt. Sie begleitet mich zu einer Firma, bei der Mutter einen Job für mich aufgetrieben hat. Es ist eine große Offsetdruckerei, wir gehen in das Direktionsbüro im ersten Stock. Der Verantwortliche ist entgegenkommend, mehr noch, verständnisvoll.
»Ja, ich glaube, daß Sie sich hier gut eingewöhnen werden. Sie können auch ganz gut verdienen, es werden eine Menge Überstunden gemacht. Da vergessen Sie bald, wo Sie waren. Arbeit ist das Wichtigste im Leben, alles andere kommt von selbst. Wo wird er wohnen?« fragt er die Fürsorgerin.
»In dem Heim in der Geblergasse. Er kümmert sich dann anschließend gleich darum, seine Mutter hat ihn schon vor einer Woche angemeldet«, sagt sie.
»Das ist sehr günstig. Das Heim ist ganz in der Nähe. Also, und wann will er anfangen?« fragt er wieder die Fürsorgerin.
»Am Mittwoch, glaube ich, wurde zwischen seiner Mutter und Ihnen vereinbart.«
»Ja, Mittwoch, gut, dann verbleiben wir so.« Er erhebt sich, gibt der Fürsorgerin die Hand, dann gehen wir.
»Machen Sie das mit dem Heim allein?« fragt sie.
»Ja, auf Wiedersehen.« Ich gehe mit schnellen Schritten von ihr weg, die Straße hinunter. In einigen hundert Metern Entfernung ist das Heim. Durch eine Doppeltüre komme ich in einen Gang. Es riecht stark nach Kohl,
Weitere Kostenlose Bücher