Der Minus-Mann
Hauptautor und Akteur im wöchentlichen Psychodrama.
Turl, mein Zellennachbar, Attraktion der Anstalt.
»Krieg ich den Brief?« hat er den Direktor einer Strafanstalt gefragt, als man ihm wegen eines Disziplinarvergehens seine Post vorenthielt. »Nein«, sagt der. Turl zog einen geköpften Nagel aus der Tasche, knöpfte sein Hemd auf und drückte sich den Nagel unter dem Schlüsselbein in die Brust, auf solche und ähnliche Arten kam er zu dreizehn Nägeln in der Brust, er schnitt sich die Arterien an den Armen auf, er schluckte ganze Bestecke, aß Rasierklingen und Glasscherben, spritzte sich das Sputum von Lungenkranken in die Lunge, Benzin in die Kniegelenke – braucht ständig jemanden, der ihm zuhört, klopft nachts um drei Uhr gegen die Wand.
»Hast du Hunger, ich habe Butter und Semmeln und Kaffee«, sagt er und möchte nur reden; haßt und liebt den Arzt, bei dem er in Therapie ist, mit gleicher, ständig wechselnder Inbrunst, muß überall Mittelpunkt sein, onaniert sechsmal am Tag, zeigt sein nacktes, monströses Glied zu den Mädchen im Nebenhaus hinüber, weint und schreit, rechthaberisch und durchtrieben, einsam und flehend, stiehlt und schenkt in einer Bewegung, lügt und redet, fantasiert in Hingabe und Selbstbetrug, bohrt Löcher in die dicken Milchglasscheiben der Gangfenster, steht stundenlang am Hocker, beobachtet die Frauen über den Hof auf der Rückseite der Anstalt beim Umziehen, beim Kochen und beim Pinkeln, weiß die Farben der Unterwäsche der Gerichtssekretärinnen, öffnet sich mit den Fingern die Operationswunde am Bauch, wird bewußtlos, die Gedärme schlängeln glitschig über die Decke. Er überlebt und träumt von einem Mädchen mit langem schwarzen Haar und blauen Augen, dann eitern die Nähte, Rippenresektion, Drains, Todesangst und feuchte Hände. Tage später wirft er Scheißdreckklumpen hinter Ärzten und Pflegerinnen her, schreit und brüllt, tobt und geifert, landet im Irrenhaus, wird niedergespritzt, schläft aus der Zeit, dem Unerträglichen.
Jetzt ist er hier. Er klopft. Es ist acht Uhr abends, die Stunde des Schneidens und Schluckens und Fickens und Stehens am Fenster und Träumens in die Samtluft.
»Kommst du zu mir auf eine Partie Schach«, fragt er, »ich läute an, daß dich der Beamte herüber läßt.«
»Ja«, sage ich.
Kurze Zeit später öffnet ein Beamter mit Fuchsgesicht meine Zellentüre.
»Der braucht wieder einen Gesprächspartner, hast du Lust«, sagt er. Turl hockt am Bett im Türkensitz und rührt einen Kaffeebrei, zwei gehäufte Eßlöffel auf ein Glas – eine der üblichen Bomben. Bringt Euphorie und gerauhte Aggression. Ist Elixier und Stimulanz, magenmordende Fantasiepeitsche und Illusionsgenerator, unentbehrlich, notwendig, erschlichen, ertrotzt, eine Anleihe von draußen, der Sprung über die Mauer, die Traummaschine, ein Teilchen Leben, direkt und unmittelbar, im Gehirn, im Schwanz.
Kleine Schlucke, warten und schweigen, bis die Wirkung kommt, einströmt, sich ausbreitet, die Dimensionen biegt, die Pupillen einengt.
»Er weiß, daß ich dabei kaputtgehe«, sagt er.
»Wer«, sage ich.
»Der Arzt«, sagt er.
»Du gehst kaputt?« sage ich.
»Ja, ich schaff die Therapie nicht, ich will aufspringen, ihm ins Gesicht springen, dann sitz’ ich wieder und heule mit ihm, dann ist er alles für mich, alles, verstehst du, und ich lüge ihn an und sage ihm, daß ich ihn angelogen habe, und er lacht nur, er hat so wenig Zeit. Was ich jetzt sagen könnte, jetzt, wo die Mühlen hinter der Stirn mahlen. Angst, verstehst du, Angst habe ich, ganz verschissene Angst«, sagt er.
Lichtfunken und flimmernde Sterne, Abend im Frühling, weiches, helles Lachen von der Straße und ›Yesterday‹ aus dem Radio.
»… ich kann es nicht angreifen … es ist da, daß ich morgen nicht mehr den Mut habe, ein Besteck zu schlucken oder dem Roland eine aufs Maul zu klopfen, daß ich umfalle, hilflos bin …«, sagt er.
»Und was bist du jetzt?« sage ich.
»Aber verstehst du denn nicht … jetzt ist doch er da, aber die Scheißanderen drängen sich dazwischen, die vergönnen mir die Vertrautheit nicht, daß ich der Wichtigste bin … aber du weißt es ja, ich kann ihn in der Nacht rufen lassen, bei mir kommt er immer … du weißt es ja, ja? … du hast es ja das letzte Mal selbst gehört, wie er gesagt hat, der Turl, mein Sorgenkind … ich kann ja machen, was ich will … nur wie ich auf der Augenklinik die Linsen für einen Gucker gestohlen hab, hat er sie mir
Weitere Kostenlose Bücher