Der Minus-Mann
Autos in endloser Kolonne. Das Mädchen ist still neben mir. In der Mitte, erhöht zwischen den Fahrbahnrichtungen, laufen die Schienen der Straßenbahn. An den Haltestellen ballen sich Menschentrauben. Von einer dieser Inseln läuft plötzlich eine Frau auf die Fahrbahn. Ich trete voll auf die Bremse. Ein dumpfer Schlag gegen die Wagenfront. Die Frau stürzt zu Boden. Der Wagen steht.
»Komm rüber«, sage ich zu Cha-cha, ziehe sie auf den Lenkersitz. Blitzschnell, halb im Aussteigen. Ich habe keinen Führerschein. Die Frau liegt bewußtlos. Sie blutet stark aus einer Wunde am Hinterkopf.
»Ja, mein Gott, sie ist ja direkt ins Auto gelaufen«, sagt ein Mann neben mir und beugt sich nieder.
»Ich rufe die Rettung und die Polizei an«, ruft ein anderer und verschwindet im Gewühl an der Haltestelle.
»Da können Sie nichts dafür«, sagt ein Mann zu mir. Umstehende reden. Ein Straßenbahner kommt gelaufen, »ich habe es genau gesehen, die Frau ist schuld«, sagt er.
»Ich weiß, meine Freundin hat sofort gebremst, aber die Distanz war zu kurz«, sage ich. Cha-cha stützt sich blaß gegen den Kotflügel. »Ihre Freundin?« Der Straßenbahner sieht mir überrascht ins Gesicht. »Es hat sie furchtbar aufgeregt. Sie fährt immer sehr vorsichtig …« Mit Verbandmull reibe ich das Blut vom Gesicht der Frau, »sie kann nichts dafür«, sage ich und nehme Cha-chas Hand.
»Schon gut, Fräulein, schon gut, ich kann bezeugen, daß Sie nichts dafür können«, sagt einer der Männer. Der Straßenbahner zögert noch, dann aber nickt er ebenfalls. Ich atme auf.
Mit Blaulicht und Folgetonhorn treffen kurz danach Rettung und Polizei ein. Zwei Männer legen die Frau auf eine Bahre und heben sie in den Wagen. Nach zwanzig Minuten ist alles klar. Cha-cha ist schuldlos. Wir können weiterfahren. Nach hundert Metern hält das Mädchen. Sie wirft mir die Arme um den Nacken und schluchzt. »Ich hab’ solche Angst gehabt …« Ihre Lippen sind blaß und zittern. Sie küßt mich lange mit geschlossenem Mund. Wir tauschen die Plätze. Ich fahre.
Die Frauenkirche taucht aus dem Auspuffdunst der Autos vor mir auf. Ganze Straßenzüge sind gesperrt, andere auf Ersatzfahrbahnen verlegt. U-Bahn-Bau. Ich schleiche in den Kolonnen zum Parkhochhaus beim Hauptbahnhof.
Es ist kühl, grau und unfreundlich. Cha-cha geht einkaufen, ich auf ein Bier. Ich gehe zum Stachus, Menschenströme treiben. Riesige Tafeln über dem Mathäser. ›James Bond‹. Mir ist nicht nach Kino zumute. Ich schaue mich um, aber dafür ist es zu früh. Cha-cha wartet im ›Massimo‹ auf mich.
»Könnte ich nicht nachmittag schon arbeiten? Ich habe ein paar Lokale gesehen, die interessant sind. Männer, allein«, sagt sie. Sie ist lebhaft, eifrig.
»Geh zum Coiffeur, in der Passage unter dem Bahnhof. Ich hole dich dann ab«, sage ich.
Ich schlendere durch die Goethe- und Schillerstraße, stecke den Kopf in einige Lokale. Es ist nichts los. Einige Besoffene lärmen herum. Dann hole ich das Mädchen ab. Eine wogende Dame stürzt auf mich los, bietet jedes Haar- und kosmetische Service. Lächelnd schiebe ich sie zur Seite und suche mein Eigentum. Die Wogende bleibt mir. Ich frage, werde vertröstet.
»Ach ja, die Frau Gemahlin, haben Sie ein bißchen Geduld, sie ist gleich fertig, aber hier gibt es Journale«, auch ihre Stimme wogt.
»Pralinen haben Sie nicht?« frage ich. Sie ist irritiert. Wogt nicht mehr. Ist steif und distanziert. Denkt, wogt dann in andere Richtung. »Bin ich schön?« sagt Cha-cha. Ich bin fasziniert, bezahle. Beim Stiegenaufgang gebe ich ihr eine Ohrfeige, dann eine zweite. Leute werden aufmerksam, murren. Cha-cha zieht ein Weingesicht.
»Wenn du heulst, gibt’s noch eine«, sage ich.
»Ich hab’ … vergessen, daß der Wind so stark ist«, sagt sie stockend und begreift. Kunstvoll verspielte Löckchen. Sie sieht süß aus. Im Wind nicht mehr. Im Schottenhamel essen wir.
»Liebst du mich?« fragt sie.
»Das weiß ich nicht«, sage ich. Cha-cha trinkt Burgunder. Ich Wodka. Schiebe den vollen Teller zur Seite. Neben uns soupiert ein glatzköpfiger Rundmensch mit einem Kind. Das Kind trägt eine durchsichtige Bluse und keinen BH, außerdem schaut es mich fortwährend an.
»Dieses Flittchen möchte mit dir ins Bett«, sagt Cha-cha böse.
»Ja, wahrscheinlich«, sage ich und bestelle mir noch einen Wodka.
»Trink nicht soviel … du bist unerträglich, wenn du eifersüchtig bist«, sage ich.
»Du brauchst ja nicht hinüberzuschauen! Ich
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