Der Modigliani Skandal
eine leidlich plausible Ausrede für seinen Besuch. Er versuchte, sich etwas auszudenken. Er fuhr die Park Lane entlang, manövrierte um Marble Arch herum, folgte dann der Edgeware Road, bog schließlich in die Marylebone Road ein. Jetzt beschleunigte er das Tempo des Mercedes ein wenig und blickte starr geradeaus, weil er sich auf irgendeine verrückte Weise plötzlich in der Rolle eines Filmstars fühlte. Die Marylebone Road wurde zur Euston Road, und dann bog er beim Angel links ab.
Wenige Minuten später befand er sich vor dem Haus. Es wirkte erstaunlich normal: keine dröhnende Musik, kein rauhkehliges Gelächter, kein Lichtermeer. Er beschloß, sein Glück zu versuchen.
Er stieg aus und klopfte an die Tür. Samantha Winacre öffnete selbst, um den Kopf ein Handtuch geschlungen.
»Hallo!« sagte sie freundlich.
»Unser Gespräch ist neulich ziemlich abrupt unterbrochen worden«, sagte Julian. »Ich kam hierher und fragte mich, ob ich Sie wohl zu einem Drink einladen könnte.«
Sie lächelte breit. »Wie entzückend spontan von Ihnen.« Sie lachte. »Ich überlegte gerade, was ich unternehmen könnte, um den Abend nicht vor der Glotze zu vergeuden. Kommen Sie doch herein.«
5
Im fröhlichen Rhythmus klapperten Anitas Schuhe über das Trottoir, während sie auf Samantha Winacres Haus zueilte. Die Sonne schien warm; es war bereits 9 Uhr 30. Wenn sie Glück hatte, lag Sammy noch im Bett. An sich hätte Anita um 9 Uhr mit der Arbeit beginnen sollen, doch sie verspätete sich oft, was Sammy nur selten auffiel. Beim Gehen rauchte sie eine kleine Zigarette, inhalierte tief und genoß den Geschmack des Tabaks und die frische Morgenluft. An diesem Morgen hatte sie sich ihr langes, blondes Haar gewaschen, ihrer Mutter eine Tasse Tee gebracht, ihrem jüngsten Brüderchen die Flasche gegeben und die übrigen Kinder zur Schule geschickt. Sie war nicht müde, denn sie war erst achtzehn; in zehn Jahren allerdings würde sie aussehen wie vierzig.
Das neue Baby war das sechste ihrer Mutter, das eine, das gestorben war, sowie etliche Fehlgeburten nicht mitgerechnet. Was dachte sich bloß der Alte dabei, ging es ihr durch den Kopf: Wußte er denn nichts von Geburtenkontrolle? Wenn er mein Mann wäre, würde ich ihn aber gehörig »aufklären«.
Gary wußte sehr genau, was für Vorkehrungen zu treffen waren, nur nützte ihm das bei Anita wenig: Sie ließ ihn nicht, noch nicht. Sammy fand das altmodisch an ihr: einen Mann so auf die Folter zu spannen. Vielleicht hatte Sammy ja recht, doch Anita meinte, es sei nicht halb so schön, falls man einander nicht richtig liebhätte. Aber Sammy redete überhaupt eine Menge Unsinn.
Sammys Haus befand sich auf einem terrassierten Grundstück und war unterkellert: alt, aber recht hübsch gemacht. In diesem Teil von Islington hatten viele reiche Leute alte Häuser renovieren lassen, und so nach und nach entstand eine recht luxuriöse Wohngegend. Anita betrat das Haus durch die Vordertür und schloß sie leise hinter sich.
Sie betrachtete sich im Spiegel in der Eingangsdiele. Für ein Make-up war ihr heute keine Zeit geblieben, doch ihr rundes, frisch durchblutetes Gesicht brauchte dergleichen eigentlich auch nicht. Sie legte nie viel auf, außer vielleicht am Samstag, wenn sie im West End ausging.
In das Glas des Spiegels war eine Bier-Reklame eingelassen, so ähnlich, wie man's etwa in einer Pentonville-Road fand. Die Folge war, daß man nie sein Gesicht richtig vollständig sehen konnte; doch Sammy behauptete, es handle sich um Art Deco.
Noch mehr Unsinn.
Sie zog ihre Straßenschuhe aus, holte ein Paar Mokassins aus ihrer Schultertasche und schlüpfte hinein. Dann ging sie hinunter in den Keller.
Der Raum wirkte trotz der tiefen Decke erstaunlich groß, doch das war kein Wunder, denn er nahm die gesamte Breite des Hauses ein. Anita zog ihn allen anderen Räumen vor. Kleine Fenster am vorderen und hinteren Ende ließen ein wenig Helle ein, doch in der Hauptsache kam die Beleuchtung von einer Batterie von Spotlights, die auf Poster gerichtet waren und auf kleine abstrakte Skulpturen und Blumenvasen. Der Boden war größtenteils mit kostbaren Brücken bedeckt.
Anita öffnete ein Fenster und räumte rasch auf. Sie leerte die Aschenbecher in einen Abfalleimer, schüttelte und klopfte die Kissen zurecht, entfernte ein paar halbverwelkte Blumen. Von einem niedrigen Chromtisch nahm sie zwei Gläser; das eine roch nach Whisky. Samantha trank Wodka. Vielleicht war der Mann inzwischen
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