Der Modigliani Skandal
schon wieder fort, vielleicht auch nicht.
Sie ging in die Küche und überlegte, ob ihr wohl noch Zeit für den Abwasch blieb, bevor sie Sammy aufwecken mußte. Nein, beschloß sie: Sammy hatte erst am späten Vormittag einen Termin. Aber wahrscheinlich konnte sie die Küche aufräumen, während Sammy ihren Tee trank. Sie setzte den Kessel auf.
Das Mädchen betrat das Schlafzimmer und zog die Vorhänge auf: Wie eine zurückgestaute Flut strömte die Lichtfülle herein, und die Helle weckte Samantha sofort auf. Für einen kurzen Augenblick lag sie noch still, bis der strahlend neue Tag die letzten Spinnweben des Schlafes verscheucht hatte; dann setzte sie sich auf und lächelte das Mädchen an.
»Guten Morgen, Anita.«
»Morgen, Sammy.« Das Mädchen reichte Samantha eine Tasse Tee und setzte sich, während Samantha an der Tasse zu nippen begann, auf den Bettrand: eine eigentümliche Mischung aus Teenager und Hausmutter, reif über die Jahre hinaus.
»Ich habe unten saubergemacht und auch Staub gewischt«, sagte sie. »Der Abwasch, hab ich mir gedacht, kann bis später warten. Gehen Sie aus dem Haus?«
»Mmm.« Samantha leerte ihre Teetasse und stellte sie neben das Bett. »Ich habe eine Skript-Konferenz.« Sie schleuderte die Bettdecke beiseite, erhob sich und ging ins Badezimmer. Dort duschte sie sich kurz.
Als sie zurückkam, war Anita dabei, das Bett zu machen. »Ich hab das Skript für Sie rausgelegt. Das, was Sie neulich abend gelesen haben.«
»Oh, danke«, sagte Samantha. »Ich fragte mich schon, wo ich's wohl gelassen haben könnte.« In das große Badetuch gehüllt, trat sie zum Schreibtisch am Fenster und warf einen Blick auf das Buch. »Ja, das ist es. Was um alles auf der Welt sollte ich bloß ohne dich anfangen, Mädchen?«
Anita machte sich im Zimmer zu schaffen, und Samantha trocknete sich das kurzgeschnittene Haar. Dann zog sie sich Höschen und BH an und setzte sich vor den Spiegel, um sich auf ihr Make-up zu konzentrieren. Anita war an diesem Morgen nicht so redselig wie sonst, und Samantha fragte sich, was der Grund dafür sein mochte.
Plötzlich fiel ihr etwas ein. »Was ist mit deinem Schulzeugnis, hast du das inzwischen bekommen?«
»Ja. Heute morgen.«
Samantha drehte sich herum. »Und wie hast du abgeschnitten?«
»Hab bestanden«, sagte das Mädchen ausdruckslos.
»Gute Noten?«
»Eine Eins in Englisch.«
»Ist ja phantastisch!« begeisterte sich Samantha.
»Meinen Sie?«
Samantha erhob sich und nahm Anitas Hand in die ihre.
»Was hast du denn, Anita? Warum bist du nicht zufrieden?«
»Weil's überhaupt keinen Unterschied macht, wirklich nicht. Ich kann in einer Bank für zwanzig Pfund pro Woche arbeiten oder in der Brassey-Fabrik für fünfundzwanzig Pfund. Das kann ich aber auch ohne solche Noten.«
»Aber ich dachte, du wolltest aufs College.«
Anita blickte zur Seite. »Das war bloß so eine Albernheit -ein Traum. Ich kann genausowenig aufs College gehen wie zum Mond fliegen. Was wollen Sie anziehen - das weiße Gatsby-Kleid?« Sie öffnete die Schranktür.
Samantha ging zu ihrem Spiegel zurück. »Ja«, sagte sie geistesabwesend. »Heutzutage besuchen viele Mädchen das College, weißt du.«
Anita legte das Kleid auf das Bett und holte auch eine weiße Strumpfhose und passende Schuhe hervor. »Sie wissen doch, wie's bei uns zu Hause ist, Sammy. Mal hat Vater 'n Job, mal hat er keinen, nicht seine Schuld. Meine Mam kann nicht viel verdienen, und ich bin die älteste, verstehen Sie. Ich muß noch ein paar Jahre zu Hause bleiben und arbeiten, bis die Kleinen selbst was verdienen. Eigentlich .«
Samantha ließ ihren Lippenstift sinken und betrachtete im Spiegel das junge Mädchen, das hinter ihr stand. »Was - eigentlich?«
»Ich hatte gehofft, daß Sie mich bei sich behalten.«
Samantha schwieg einen Augenblick. Sie hatte Anita während der Sommerferien eingestellt, als eine Art Kombination von Dienstmädchen und Haushälterin. Die beiden kamen gut miteinander aus, und Anita hatte sich als ausnehmend tüchtig erwiesen. Allerdings hatte Samantha nie daran gedacht, daß sich daraus ein dauerhaftes Arbeitsverhältnis entwickeln könnte.
Sie sagte: »Ich finde, du solltest aufs College gehen.«
»Wie Sie meinen«, gab Anita zurück. Sie nahm die Teetasse vom Nachttisch und ging hinaus.
Samantha beendete ihr Make-up und schlüpfte dann in Jeans und Jeanshemd, bevor sie nach unten ging. Als sie die Küche betrat, stellte Anita ein gekochtes Ei und ein Gestell mit
Weitere Kostenlose Bücher