Der Mönch und die Jüdin
den Satz.
Der Erzbischof nickte. »Und sie predigen es nicht nur, sie leben es auch. Wen wundert es also, dass sie gerade unter denjenigen großen Zulauf finden, die von Aufschwung, Handel und Gewerbe nicht profitieren. Die ›Armen Christi‹ predigen zu den Armen, und diese folgen ihnen nach.«
»Das mag unbequem sein«, sagte Gilbert, »aber eine Sünde vermag ich darin nicht zu erkennen.«
»Wartet, bis Ihr sie morgen erlebt, dann werdet Ihr verstehen, dass sie eine Gefahr sind, dass man sie nicht einfach gewähren lassen darf, selbst wenn man eine gewisse Sympathie für ihre Lehren empfindet.«
»Was Ihr gegen sie einwendet, ist demnach politischer, nicht theologischer Natur«, folgerte Gilbert.
»In der Tat verstehe ich mich mehr auf die Politik«, sagte Arnold. »Die Theologie bereitet mir zwar großes intellektuelles Vergnügen, aber ich kann auf diesem Gebiet weder Euch noch dem ehrwürdigen Abaelard das Wasser reichen, den zu hören wir in Paris gemeinsam die Ehre hatten. Deswegen habe ich Euch rufen lassen, Gilbert. Ich brauche Euren theologischen Verstand. Ihr müsst mir helfen, morgen in dieser Sache ein ausgewogenes Urteil zu fällen. Everwin hat Bernhard von Clairvaux brieflich um Rat gebeten.« Arnold verzog abfällig das Gesicht. »Seine Antwort steht noch aus, und ich denke gar nicht daran, auf ihr Eintreffen zu warten.«
»Selbst wenn Bernhards Rat vernünftig und hilfreich wäre, würdest du ihn nicht annehmen, stimmt's?«, sagte Anselm.
Der Erzbischof nickte. »Allerdings. Bernhard von Clairvaux ist ein heuchlerischer Sauertopf. Und er hat Abaelards Lebenswerk zerstört, ihn auf übelste Weise verleumdet und in den Schmutz gezogen. Bernhard verdient es, dass man ihn ignoriert. Ich glaube, das kann er am wenigsten ertragen.«
Nun begann Gilbert mit einer längeren theologischen Ausführung, bei der er die Motive und Lehren der verschiedenen Häretikergruppen, die sich gegenwärtig rasant in ganz Europa ausbreiteten, einer gründlichen Analyse unterzog, nur gelegentlich von kurzen Zwischenfragen des Erzbischofs unterbrochen. Anselm schwieg mit gelangweiltem Gesichtsausdruck. Konrad, der Gilbert sehr schätzte, versuchte anfangs, konzentriert zuzuhören, aber das Ganze schien ihm doch sehr theoretisch. Allmählich schlichen sich seine Gedanken durch die von der Sonne erleuchteten Glasfenster hinaus und gingen über den Dächern Kölns spazieren. Wie gerne wäre er jetzt durch die Stadt gelaufen und hätte sich alles angeschaut!
Da befiel ihn eine heftige Sehnsucht, Hannah wiederzusehen. Er spielte in seiner Tasche mit der Muschel, die sie ihm geschenkt hatte. Dabei sah er ihren fließenden, wiegenden Gang vor sich, hörte ihre Stimme wie eine leise Musik und glaubte fast, dass sie ihm von irgendwo draußen vor den Fenstern zulächelte. Wie ist es möglich, dass sie eine solche Wirkung auf mich ausübt?, dachte er. Was soll nur daraus werden?
Arnolds und Gilberts theologischer Diskurs zog sich in die Länge. Den beiden schien das Vergnügen zu bereiten. Augustinus und andere Kirchenväter wurden zitiert, Abaelard und sein Gegenpart Bernhard herangezogen. Die Meinung des Papstes Eugen wurde ebenso erörtert wie die seiner Vorgänger. Konrad sah, wie Anselm gegen den Schlaf ankämpfte. Immer wieder fielen dem Mönchsritter die Augen zu, und sein Kopf neigte sich vornüber, worauf er sich jedes Mal ruckartig aufrichtete, seine Augen rieb oder sich am Kinn kratzte.
Schließlich nahte die Erlösung in Gestalt von Malachias, der den Kopf zur Tür hereinsteckte und den Erzbischof an die Sitzung des Domkapitels erinnerte. Die Herren warteten bereits. »Herrje«, sagte Arnold. »Das hätte ich fast vergessen. Ich eile!« Im Hinausgehen sagte er: »Macht euch einen schönen Nachmittag, meine Freunde. Diese lästigen Sitzungen dauern leider immer furchtbar lange. Fühlt euch im Palast ganz wie zu Hause. Malachias wird euch eure Gemächer zeigen.«
Malachias führte sie eine Wendeltreppe hinauf, ging dabei neben Konrad her – Anselm und Gilbert folgten hinterdrein – und redete in einem fort: »Du bist zum ersten Mal in Köln, nicht wahr? Ich darf dich doch duzen? Du darfst mich auch duzen, schließlich, scheint mir, sind wir ungefähr im gleichen Alter. Das muss ja furchtbar aufregend sein – zum ersten Mal in so einer großen Stadt. Für mich ist das ganz alltäglich, aber ich frage mich, wie es sich wohl draußen auf dem Land lebt? Das kenne ich überhaupt nicht. Ich bin in der Stadt
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