Der Mönch und die Jüdin
Hannah zu tun hatte, war so stark mit Gefühlen aufgeladen, dass es ihm schwerfiel, einen klaren Gedanken zu fassen.
»Nun, mir scheint, Ihr habt überhaupt noch nicht viel über die Sache nachgedacht. Im ersten Rausch der Liebe ist das völlig normal. Doch glaubt mir, dieser Rausch ist nicht von Dauer, und irgendwann folgt das böse Erwachen. Leider oft erst, nachdem bereits vollendete Tatsachen geschaffen wurden, die nicht mehr rückgängig zu machen sind.«
»Tatsachen …«
»Dass eine Frau entehrt ist, zum Beispiel, und dann kein gesittetes Leben mehr führen kann.«
Das war nun wirklich eine ungeheuerliche Unterstellung! »Nichts dergleichen ist geschehen!«, sagte Konrad empört.
Nathan legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. »Daran zweifle ich nicht, denn Ihr seid ganz sicher ein ehrenwerter Mann. Aber welche Zukunft hätte denn eine Verbindung mit Hannah? Ihr wärt bei Christen und bei Juden gleichermaßen schlecht angesehen. Zu Anfang, in der ersten Liebesglut, sind einem solche Dinge egal. Aber später kommt dann die Einsamkeit zu zweit, das Gefühl des Ausgestoßenseins. Sie hätte keine Familie, keine jüdischen Freunde mehr. Wollt Ihr Hannah das wirklich zumuten? Ihr fühlt Euch doch gewiss der christlichen Nächstenliebe verpflichtet, nicht wahr, Konrad?«
Konrad antwortete zögernd: »Ja, das ist wahr.«
»Dann lasst Euch bei Eurer Entscheidung von der Nächstenliebe leiten. Überlegt, welche Zukunft Ihr Hannah bieten könntet. Und überlegt, welche Zukunft ihr ein wohlhabender jüdischer Kaufmann bieten kann, wie ich ihn für sie als Ehemann aussuchen werde. Denkt an Hannahs Wohl, an ihr Glück – nicht nur für den Augenblick, sondern für ihr ganzes zukünftiges Leben. Wenn Ihr Hannah wirklich liebt – und daran zweifle ich nicht –, solltet Ihr verzichten. Das ist das Edelste und Großmütigste, was Ihr tun könnt. Lasst sie in Frieden. Wenn Ihr sie wiederseht, und je öfter Ihr sie wiederseht, desto schwerer macht Ihr es für sie – und für Euch selbst.«
Nathan stand auf. »Ich bin sicher, Ihr werdet die richtige Entscheidung treffen.« Er klopfte Konrad auf die Schulter und ging davon.
Alles, was dieser Mann gesagt hatte, klang so vernünftig – zu vernünftig.
Wenn Konrad Hannah wirklich liebte, dann musste er zuallererst an ihr Wohl denken, da hatte Nathan vollkommen recht. Er musste daran denken, was das Beste für Hannah war. Sie hatte ihm erzählt, wie Nathan und seine Söhne mit ihren Frauen umsprangen. War es das Beste für sie, Männern ausgeliefert zu sein, die ihre Frauen tyrannisierten und ihren Willen mit Gewalt durchsetzten?
Joseph ben Yehiel war nicht der Ansicht gewesen, dass seine Tochter bei seinem Bruder gut aufgehoben sein würde. Warum hätte er sonst Konrad das Versprechen abgenommen, Hannah niemals im Stich zu lassen? »Ich weiß, sie liebt Euch«, hatte Joseph gesagt. Dieser wunderbare alte Mann hatte an die Liebe geglaubt.
Konrad sehnte sich nach Hannah. Er wollte wieder die Wärme ihrer Hände spüren, das Pochen ihres Herzens, wenn sie einander so eng umarmten wie in der Nacht, bevor Benjamin sie getrennt hatte. Er schaute zu den Pferdeställen hinüber, wo die Juden einquartiert waren. Irgendwo dort drinnen war sie – Hannah.
Konrad erschien sie kostbarer als der edelste Diamant. Sie ist ein Teil von mir, und ich bin ein Teil von ihr. So hatte es sich angefühlt, als sie sich in der vorletzten Nacht umarmt hatten. Sein Herz klopfte, er atmete tief. Seit er Hannah begegnet war, hatte er zum ersten Mal das Gefühl, wirklich lebendig zu sein. Er war nicht stark, und er hatte nie gelernt, sich mit den Fäusten oder dem Schwert zu verteidigen. Aber er musste trotzdem einen Weg finden, ihr zu helfen. Er ging unruhig im Burghof umher, schaute, ob er sich irgendwo nützlich machen konnte. Aber das Essen war verteilt, die Juden und die Reiter einquartiert. Im Moment gab es nichts zu tun.
Flucht. Hannah befreien und mit ihr davonreiten, irgendwohin. Mit ihr auf Reisen gehen. Weit weg, wo Nathan ihr nichts mehr anhaben konnte. Aber wie sollte er diese Idee in die Tat umsetzen? Er hatte Vagabundus, auch wenn ihm das Pferd eigentlich gar nicht gehörte. Aber Vagabundus war klein. Er konnte sie nicht beide tragen, jedenfalls nicht über eine längere Strecke. Sie würden ein zweites Pferd benötigen.
Die Ritterpferde wurden gewiss alle gebraucht, sie waren unentbehrlich. Vielleicht konnte Konrad einem Juden ein Zugpferd abkaufen. Aber dazu brauchte er
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