Der Mönch und die Jüdin
Mittelmeer. Und im Osten erstreckten sich einsame, unberührte Wälder so weit das Auge reichte.
Unvermittelt musste Hannah an den armen Tanzbären vom Heumarkt denken. In diesen Wäldern konnten die Bären und anderen wilden Tiere stolz und frei umherziehen, wie es ihrer Natur entsprach.
»Ach, Konrad! Ich wünsche mir so sehr, dass wir zusammen auf große Fahrt gehen! Ich möchte gemeinsam mit dir die Welt entdecken!«
»Das möchte ich auch, Hannah, das wäre die Erfüllung meines allergrößten Traums.«
Sie hatte das Gefühl, ihm noch nie so nah gewesen zu sein. Seine großen, nachdenklich blickenden Augen waren wie schimmernde Seen. Ganz leicht, wie von selbst, fanden sich ihre Lippen zu einem langen, innigen Kuss. Mit geschlossenen Augen erspürte sie die sinnliche Wärme seines Mundes.
Langsam tauchte sie wieder aus diesem Glücksgefühl auf. Sie wusste, dass Nathan sie verprügeln würde, wenn er erfuhr, dass sie sich mit Konrad getroffen hatte. Sie spürte, wie ihr Körper sich bei dem Gedanken daran verkrampfte.
»Was hast du?«, fragte Konrad. »Du musst an deinen Onkel denken, und an Benjamin, nicht wahr?«
Hannah seufzte. »Ja. Ich habe Angst vor ihnen.« Und da wurde ihr klar, dass es nur einen Ausweg gab: Sie musste mit Konrad fliehen.
Als hätte er ihren Gedanken erraten, sagte er: »Ich habe nachgedacht. Am liebsten würde ich dich wegbringen – weit weg, irgendwohin, wo du vor Nathan und seinen Söhnen in Sicherheit bist.«
Hannah wurde ganz aufgeregt, als er das sagte. »Dann lass uns fliehen, heute noch! Ich will nicht mehr zu Onkel Nathan zurück. Nie mehr!« Sie hasste es, Ruth und Rebekka zurückzulassen, aber was konnte sie denn schon tun, um ihnen zu helfen? Wenn sie zurückging, war sie Nathan und Benjamin ebenso ausgeliefert wie die beiden. Es gab nur eine Chance: Sie musste selbst so stark werden, dass sie ihre Mutter und ihre Schwester befreien und zu sich holen konnte. Noch waren Konrad und sie selbst keine Kämpfernaturen, aber sie konnten es beide lernen, mit Dolch und Schwert umzugehen. Und dann würde sie Ruth und Rebekka befreien. Konrad würde ihr dabei helfen, denn er liebte sie aufrichtig, das spürte sie klarer als je zuvor. Ihre Gedanken überschlugen sich.
Natürlich würde sie ihm noch nicht sagen, dass sie den Plan hatte, Ruth und Rebekka zu befreien. Er sollte nicht glauben, dass sie ihn benutzte. Das war eine schreckliche Vorstellung, denn sie liebte ihn. Sie würde ihn bitten, ihr zu helfen, aber sie würde ihn niemals benutzen.
»Heute? Jetzt sofort? Aber, Hannah, wie stellst du dir das denn vor?«
Sie schaute ihn überrascht an. »Wir gehen einfach! Diese Burg hat doch bestimmt irgendeinen geheimen Hinterausgang, durch den wir entwischen können, ohne dass Nathan etwas merkt. Dann gehen wir hinunter zum Rhein. Wir finden sicher ein Schiff, das uns mitnimmt. Wir werden Geld verdienen. Vergiss nicht, dass ich etwas vom Handel verstehe! Wir werden uns schon durchschlagen. Wenn wir nur immer fest zusammenhalten, können wir es schaffen!«
»Hannah, das Rheinland ist im Moment voll von fanatischen Judenhassern! Überall hat Radulf die Menschen aufgehetzt. Willst du, dass wir einer solchen Bande in die Hände fallen wie denen, die gestern Abend Äxte schwingend am Hafenkai aufmarschiert sind?«
Hannah merkte, wie sie wütend wurde. Warum sagte er nicht einfach: Ja, los! Auf geht's!? Sie hatte sich doch jetzt entschieden. »Ich binde mir ein großes Tuch um, damit man meine schwarzen Haare nicht sieht. Warum sollten sie mich dann noch für eine Jüdin halten? Und du mit deiner Mönchskutte bist sowieso völlig unverdächtig.«
»Es ist gefährlich, zu Fuß zu reisen. Auf dem Hinweg zur Wolkenburg sind wir von Wegelagerern überfallen worden. Nur Anselm von Bergs mutiges Eingreifen hat uns das Leben gerettet! Wir brauchen Pferde, und ich möchte, dass wir uns verteidigen können.«
»Aber ich kann nicht reiten«, sagte Hannah. »Ich habe noch nie auf einem Pferd gesessen. Deswegen … ähm … möchte ich lieber per Schiff reisen.«
»Ich kenne jemanden, der dir das Reiten beibringen kann. Man kann es an einem Tag lernen.«
Es machte sie so wütend, dass er nicht einfach mit ihr aufbrechen wollte! Er liebte sie doch, oder etwa nicht?
Natürlich würden sie unterwegs Schwierigkeiten bewältigen müssen, aber ihr Kopf war voll von Josephs Reiseerzählungen. Immer wieder hatte er ihr herrliche Anekdoten erzählt, wie er unterwegs mit Pfiffigkeit schwierige
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