Der Mönch und die Jüdin
er vor dem Eingang Aaron stehen, Josephs jungen Diener, der von Nathan ben Yehiel übernommen worden war. Offenbar hatte er nach ihm Ausschau gehalten, denn als Konrad sich ihm näherte, sprach der Diener ihn sogleich an. »Herr Konrad«, sagte Aaron, »ich habe hier einen Brief für Euch. Von meiner Herrin Hannah.«
Konrad bedankte sich und bat ihn, Hannah herzliche Grüße zu bestellen. Als der Diener die Pergamentrolle übergeben hatte, zögerte Aaron unschlüssig, als wollte er Konrad noch etwas sagen. »Was ist?«, fragte Konrad. Doch Aaron schüttelte rasch den Kopf und eilte davon. Konrad zog sich in eine ruhige Ecke des Burghofs zurück und entrollte Hannahs Pergament. Sein Herz klopfte. Was sie ihm wohl mitteilen wollte? Sicher hatte sie inzwischen eingesehen, dass es vernünftiger war, nicht Hals über Kopf zu fliehen, sondern die Sache sorgfältig vorzubereiten. Er war so erleichtert, dass seine Schwester ihnen helfen würde!
Er las, was Hannah ihm geschrieben hatte:
»Lieber Konrad,
das Gespräch, welches wir auf dem Bergfried hatten, hat mich sehr nachdenklich gemacht. Mir ist klargeworden, dass Du doch nicht der Mann bist, dem ich mein Herz schenken möchte. Ich wünsche mir einen starken, mutigen, ritterlichen Mann, der mit mir auf große Fahrt geht und mich unterwegs tapfer vor Gefahren beschützt. Ein solcher Mann hätte gestern Abend nicht gezögert, mit mir zu fliehen. Mutig hätte er sich in dieses Abenteuer gestürzt und allen Gefahren ins Auge gesehen! Du aber hast es vorgezogen, mich auf die nächsten Tage zu vertrösten, hast ängstlich die Risiken einer Flucht abgewogen. Konrad, Du bist ein sanfter, herzensguter Mensch. Aber in Dir steckt ganz sicher kein kühner Entdecker, der mit mir auf Kauffahrt geht, um in der Fremde ein Vermögen zu machen. Du wirst immer ein demütiger und bescheidener Mönch bleiben, der ganz sicher, wie Du ja selbst gesagt hast, in einem beschaulichen, kleinen Kloster besser aufgehoben ist.
Wünsche mir Glück,
Deine Hannah.
PS: Sobald die Lage sich wieder beruhigt hat, kehre ich mit meiner Familie nach Köln zurück. Dort werde ich bestimmt einen Mann finden, der zu mir passt. Es ist besser, wenn wir uns nicht wiedersehen. Das würde Deine zartfühlende Seele nur unnötig belasten – und überhaupt nichts ändern.«
Erst konnte Konrad es nicht glauben. Er las den Brief ein zweites Mal, ein drittes Mal. Wir lieben uns doch, dachte er, wie kann sie so etwas schreiben? Eine Prüfung – und er hatte sie nicht bestanden, weil er nicht sofort mit ihr fliehen wollte. Nun packte ihn heftige Wut. War das nicht furchtbar ungerecht von ihr? Er wollte doch mit ihr fortgehen! Wären sie tatsächlich noch in der Nacht hinunter zum Rhein geflohen, hätte das schreckliche Folgen gehabt: Sie wären Radulfs fanatischen Horden genau in die Arme gelaufen!
Ja, schon möglich, meldete sich eine andere, eine leise nagende Stimme in ihm zu Wort, aber ein wirklich mutiger Mann, einer wie Rainald oder Anselm, hätte einen Weg gefunden, sich mit Hannah durch die feindlichen Linien zu schleichen, irgendwo in Vineberg einen Kahn zu stehlen und damit den Rhein hinabzufahren! Konrad dämmerte die Erkenntnis, dass Hannah mit ihrem Urteil über ihn vollkommen recht hatte: Er war tatsächlich ein schwächlicher, ängstlicher Mönch, der niemals ein guter Reiter und Schwertkämpfer werden würde. Sein Platz war also doch im Kloster, in Matthäus' kleinem Kräutergarten. Tiefenttäuscht hockte er sich auf eine Mauer hinter dem Palas und starrte zu Boden.
***
Über Nacht schöpfte Hannah neuen Mut. Ihr Körper schmerzte immer noch sehr von Nathans Schlägen, aber sie rappelte sich auf und ging in ihrem kleinen Gefängnis auf und ab. Gestern Abend hatte sie sich vollständig besiegt und zerschmettert gefühlt. Nun hatte sie ein wenig Zuversicht gewonnen. Sie war Josephs Tochter. Wenn Joseph wüsste, dass ich mich von seinem Bruder zur Sklavin abrichten lasse, würde er von den Toten auferstehen, um mich zu befreien, dachte sie. Doch darauf, dass Joseph zurückkehrte, konnte sie nicht hoffen. Nur in ihr lebte Joseph weiter. Und wenn sie Josephs Vermächtnis treu bleiben wollte, durfte sie nicht aufgeben.
Ja, sie würde Nathan gegenüber die folgsame, perfekt abgerichtete Sklavin spielen. Ihr Onkel hielt sich für sehr schlau. Sie würde ihm gehorchen, aber dabei ständig wachsam sein, und sobald sich eine Gelegenheit zur Flucht bot, würde sie in die Freiheit davonfliegen wie eine Taube
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