Der Mönch und die Jüdin
angenommen. Widogard wohnte mit ihrem Mann Bernulf weit draußen im Wald in einem schönen Holzhaus, das Bernulf selbst gebaut hatte. Bernulf arbeitete als Imker im Wald, und Widogard versorgte den großen Gemüsegarten an ihrem Haus. Ihr eigentlicher Garten aber war der Wald.
Natürlich trauerte Brigid über den Tod ihrer Mutter, und sie vermisste den Bruder, aber dort draußen bei Widogard hatte sie ein gutes Leben: Der ganze Wald war ihr Spielplatz. Sie half ihrer Tante beim Kräutersammeln und Bernulf bei der Imkerei. Langweilig war es dort draußen nicht. Viele Menschen suchten Widogard auf, um sich bei ihr Kräuter gegen allerlei Leiden zu holen, denn sie hatte einen ausgezeichneten Ruf als Heilkundige. Und oft begleitete Brigid Widogards Mann auf seinen Ausflügen in die umliegenden Dörfer und Städte, wo er auf den Märkten seinen Waldhonig verkaufte. Als Brigid älter wurde, erkannte Widogard, dass sie die Heilbegabung ihrer Mutter geerbt hatte, und von da an bildete sie ihre Großnichte ganz bewusst aus und gab ihr enormes Wissen an sie weiter. Mit den Leuten von der Wolkenburg standen Widogard und Bernulf auf freundschaftlichem Fuß. Ludowig kam oft zu Besuch. Hier fürchtete sich niemand vor seinem entstellten Gesicht, und er streifte mit Widogard und Brigid durch den Wald und trug ihnen seine neuesten Verse vor. Als Rainald von seiner Ritterfahrt zurückgekehrt war und das Amt des Burgvogts übernommen hatte, begleitete er Ludowig häufig bei seinen Besuchen. Mit den Jahren war Brigid zu einer schönen jungen Frau herangewachsen, die ihrer Mutter sehr ähnlich war. Eines Tages hatte ihr Rainald dann seine Liebe gestanden, und sie hatten geheiratet.
Dicht an dicht standen Bruder und Schwester nun auf dem Bergfried und blickten über das mondbeschienene Land, während Brigid erzählte.
»Rainald ist ein richtiger Ritter, ein großer, starker Kämpfer, aber er kann auch sehr feinfühlig und rücksichtsvoll sein, und er hat sich einen kindlichen Sinn für alles Schöne bewahrt. Ich liebe ihn ebenso wie er mich, trotz des großen Altersunterschieds von fast zwanzig Jahren. Als wir uns entschieden hatten, zu heiraten, ritt er nach Köln und suchte Anselm auf dessen Gut auf. Er hielt um meine Hand an und lud Anselm zum Hochzeitsfest auf die Burg ein. So sah ich unseren Vater seit vielen Jahren wieder. Dabei merkte ich, dass sich doch sehr viel Wut in mir angestaut hatte. Ich gab ihm die Schuld am Tod unserer Mutter und warf ihm vor, dass er sich nicht für uns interessierte. Es gab einen hässlichen Streit zwischen uns. Doch dann haben wir uns tränenreich versöhnt. Seitdem achte und schätze ich Anselm, aber gefühlsmäßig wird immer Ludowig mein Vater sein. Er hat sich um uns gekümmert, als wir klein waren, er war immer für uns da.«
Sie schwieg einen Moment, dann fügte sie hinzu: »Ludowig hat mich aus dem Feuer gerettet – und welch schreckliches Opfer hat er dafür gebracht! Bis zum heutigen Tag stehen wir uns sehr nahe, und was die Dichtkunst angeht, habe ich alles, was ich weiß, von ihm gelernt.«
»Aber Anselm ist doch wirklich mitschuldig am Tod unserer Mutter!«, sagte Konrad. »Wie konnte er zu dem Dorfschulzen sagen, dass sie Brid und uns aus dem Dorf jagen sollen! Hätte er das nicht gesagt, wäre unsere Mutter vielleicht noch am Leben.«
Brigid schüttelte energisch den Kopf. »Hätte … vielleicht … Entschuldige, Konrad, aber niemand von uns kann das wissen! Vielleicht hätten die Dörfler sie so oder so verfolgt, ganz unabhängig von dem, was Anselm zu dem Schulzen gesagt hatte. Anselm selbst kann sich nicht verzeihen, was damals geschehen ist. Bis heute quält ihn sein Gewissen, und er fühlt sich schuldig an Brids Tod. Diese Seite seines Wesens zeigt er aber nur selten. Er will andere damit nicht behelligen.«
»Hegst du denn gar keinen Groll gegen ihn?«
Da legte Brigid, die fast so groß war wie Konrad selbst, den Arm um seine Schultern. »Weißt du, ich habe meinen Frieden mit Anselm gemacht. Ich habe einen Mann, den ich liebe, und zwei kleine Kinder. Ludowig sagt immer, dass die Zukunft wichtiger ist als die Vergangenheit …«
»Das hat er zu mir auch gesagt.«
»Und er hat recht! Warum soll ich mein Herz mit Bitterkeit anfüllen wegen etwas, das so lange zurückliegt? Anselm hat niemals gewollt, dass Mutter getötet wurde. Das glaube ich ihm. Ich weiß einfach, dass er die Wahrheit sagt. Was also bringt es, wenn ich Anselm die Schuld gebe, ihn vielleicht sogar hasse?
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