Der Mörder mit der schönen Handschrift
meine – es ihnen nicht gestatten würde, mir das Wenige, das ich verlangte, zu überlassen oder zu verkaufen?
Ich werde ein weiteres Mal gegen ihre Hartnäckigkeit ankämpfen müssen. Und das ist es, was mich am meisten erschreckt. Denn ich habe Angst. Ich bin jemand, der Angst hat wie ein gehetzter Hase. Jemanden zu töten ist meinem Wesen zuwider (ich rette sogar Insekten, wenn sie auf den Rücken gefallen sind), es verstößt gegen meine gesamte Weltanschauung, gegen alles, wofür ich in meiner Jugend gekämpft habe und auch, das muss ich mir eingestehen, gegen meine natürliche Feigheit.
Nie wieder werde ich aus den Trümmern meines Gewissens den anständigen Charakter zurückgewinnen können, der mich früher auszeichnete; jeder Schritt, den ich von nun an tue, wird mir ein weiteres Stück meiner Würde rauben und damit den Ekel vergrößern, den ich vor mir selbst empfinde. Und dabei war ja dieser Anstand nie eine natürliche Eigenschaft meines Wesens, ich musste ständig darum kämpfen. Meine Almosen, meine Nächstenliebe, meine Gerechtigkeit, meine Nachsicht für die Fehler der anderen sowie mein heiterer Gleichmut, all das habe ich mir zunächst nur abgerungen und später durch eiserne Disziplin aufrechterhalten.
Ich war nicht wachsam genug. Ich hielt mich für unverwundbar. Warum nur hat das Schicksal plötzlich einen Einsatz in die Waagschale geworfen, dessen Gewicht in eklatantem Missverhältnis zur moralischen Widerstandskraft eines armen Mannes steht? Geschieht es nur um des Vergnügens willen zu sehen, wie ich meine Selbstachtung verliere, wie mein Charakter sich auflöst und wie ich immer mehr Abscheu vor mir selbst empfinde? Um zu verfolgen, wie durch eine einzige Tat ein Leben voller Rechtschaffenheit, voll ergebenen Schweigens zunichte gemacht wird? Ein Leben im Dienste des Allgemeinwohls – das darf ich, trotz meiner unbedeutenden Stellung, wohl hinzufügen.
Dabei schien sie doch anfangs so harmlos, meine fixe Idee! Aber irgendwann schleicht sich Selbstgefälligkeit ein, und wenn der Einsatz es wert scheint, kommt Überheblichkeit hinzu und diktiert einem das weitere Vorgehen.
Ich wage kaum niederzuschreiben, warum ich das alles tue, den eigentlichen Grund dafür zu nennen, aus Furcht, mich lächerlich zu machen. Und doch … Nehmen wir einmal an, irgendein einsamer oder unglücklicher Mensch fände seinen einzigen Trost in seinem Kunstverständnis, während alle anderen Güter dieser Welt ihm verwehrt sind.
Stellen wir uns vor, auch wenn es schwer fällt, es ergäbe sich für ihn die Gelegenheit, mit lächerlich geringem Aufwand ein Gemälde an sich zu bringen, es für sich allein und für immer zu besitzen, zum Beispiel das Bild Der bethlehemitische Kindermord von Pieter Brueghel. Würde dieser arme Mann zögern, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die ihn von diesem Besitz trennen? Ich rede von Brueghel, aber es könnte sich genauso gut um die Mona Lisa handeln, wenn der Betreffende einen gewöhnlicheren Geschmack hätte als ich, oder um Guernica von Picasso, wenn er von sensiblerer Wesensart wäre.
Diese Frage richtet sich an euch, die ihr eines Tages diesen Wandschrank öffnen und das hier lesen werdet, wenn ich gestorben bin; denn eben dies widerfährt mir im Augenblick der Niederschrift: Ich bin drauf und dran, für mich ganz allein etwas ebenso Wertvolles zu besitzen wie ein Werk von Brueghel dem Älteren. Ich, im hintersten Winkel dieses gottverlassenen Nestes Barles zu Hause; ich, elend und bedürftig, vom Greisenalter nicht mehr weit entfernt und dazu alles andere als schön; ein Irgendwer, gewöhnlich und gemein wie ein streunender Hund; ich werde einer der größten, wenn schon nicht Eigentümer, so doch Besitzer auf dieser Welt sein. Jeden Abend werde ich mich an diesen Tisch setzen und mich an dem unerhörten Glücksgefühl weiden können, das der Besitz mit sich bringt, gerade wenn man noch nie zuvor in seinem Leben etwas Wertvolles besessen hat.«
Noch einige Minuten blieb der Mann in sein Heft vertieft, in die kritische Durchsicht der Zeilen, die er gerade niedergeschrieben und in denen er vergeblich eine Rechtfertigung seiner Taten gesucht hatte, die Zeilen, die seinen vergeblichen Versuch enthielten, die durcheinander geratenen Trümmer seines Lebens wieder zusammenzufügen. Man hatte sie in eine Lostrommel geworfen, aus der es nun nichts mehr zu ziehen gab, das ihm Zuversicht oder Selbstzufriedenheit hätte geben können.
Er bemühte sich, nicht auf den Wind
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