Der Mörder mit der schönen Handschrift
doch noch den trügerischen Schimmer seines Lebens finden zu können.
Was murmelte da die Bléone, die sich an der Straße entlangwand und über die Kiesel hinwegplätscherte? »Wie schön wäre die Welt, wenn es keine Menschen gäbe.«
12
AN dem Tag, der dieser nächtlichen Fahrt vorausging, kehrte Violaine Maillard gegen vier Uhr nachmittags nach Hause zurück.
Die Wälder rings um den Cheval-Blanc, die von der Novembersonne mittags gestreift worden waren, versanken schon wieder in die lange Nacht dieses Nordhangs, von wo im Oktober alles, was an lebensfähigem Federwild übrig geblieben war, eiligst davonflog, um sich bis in den März hinein weiter unten, an für das Wild gefährlicheren, aber einladenderen Orten niederzulassen.
So herrschte eine beständige Stille unter dem Dach der dunklen Tannenwälder, und der Fuß des Gebirges, das sie umsäumten, klang hohl wie der Flur eines verlassenen Hauses.
Dieser Wald lief am Rand einer großen Lichtung aus, wo die Vorfahren Maillard ihr Sägewerk, ihr Kraftwerk und ihr Haus errichtet hatten.
Mit Blumen beladen stieg Violaine aus ihrem Wagen. An diesem Tag war es ein großer Strauß roter Gladiolen, Blumen, die in dieser Jahreszeit nur schwer zu bekommen waren. Sie hatte sie teuer bezahlt und vom Blumenladen demonstrativ bis zum weit entfernt geparkten Auto getragen, sodass ganz Digne sie im Vorbeigehen bewundern konnte.
Diese Zeremonie vollzog sie nun seit mehr als fünfzehn Jahren einmal im Monat, an dem Tag, an dem ihr Ehemann von den Laufblättern der Turbine zermahlen worden war.
Als sich im darauf folgenden Jahr ihre Verzweiflung gelegt hatte, hielt sie sich dazu an, jeden Monat ihres Lehens dieses schrecklichen Ereignisses würdig zu gedenken, indem sie sich einen gewaltigen Rausch antrank. Am nächsten Morgen lag sie dann regelmäßig wie eine Tote quer in ihrem Bett. Zur Gedenkzeremonie gehörte auch, dass sie das Grab ihres Mannes mit Blumen schmückte. Manchmal war es eine Palme, manchmal eine große exotische Pflanze, immer von möglichst auffälliger Farbe unter dem Zellophan, sodass sich ganz Digne daran erinnern konnte, sie vorbeigehen gesehen zu haben.
Violaine war der Ansicht, dass sie mit dieser schamlosen Betrunkenheit und der verschwenderischen Fülle von sündhaft teuren Blumen keinen zu hohen Preis zahlte, um auf ihre fortwährende Untröstlichkeit hinzuweisen. Das schien notwendig. Die stets auf Sicherung des Besitzes bedachte Umsicht der Melliflores riet ihr, ihren Schmerz weit über die Grenzen des Üblichen hinaus auszudehnen, sodass alle Gerüchte, die damals im Umlauf waren, Zeit hatten, bis zum letzten Funken zu verlöschen. Natürlich waren in diesen fünfzehn Jahren viele Zeugen gestorben. Aber leider waren immer noch einige übrig geblieben, und solange sie diese schöne Welt nicht verlassen hatten, empfahl es sich – dachte Violaine –, die innige Verbundenheit mit dem Verblichenen nicht zu lockern.
An diesem Abend kehrte sie von Thoard zurück, wo sie den Gegenstand, der ihr so viel Sorge bereitete, an sich genommen hatte. In Thoard hielt sie ein halbes Dutzend Waldarbeiter an der kurzen Leine, die unter anderem einen Buchenwald bewirtschafteten, den sie geerbt hatte. Es waren große Burschen, stur wie die Helden griechischer Epen, nicht sehr umgänglich und in Fragen der Ehre, von der sie eine sehr enge Auffassung besaßen, außerordentlich reizbar. Dank ihnen war Violaine eine Frau mit ruhigen Sinnen. Jede Woche holte sie unter größter Heimlichkeit einen von ihnen ab, der dann zwei Nächte im Chalet verbrachte.
Aber Männer trinken, und wenn sie getrunken haben, sprudeln die Geheimnisse aus ihnen heraus, wie der Wein aus einem geborstenen Fass. Eines schönen Tages rief der Förster aufgeregt bei Violaine an und teilte ihr mit, dass man das Gebrüll ihrer tobenden Waldarbeiter bis zum Forsthaus hörte.
Sie hatte gerade noch Zeit, in ihren Delage zu springen und loszupreschen, auf die Gefahr hin, die Zahnräder des Getriebes in der Gegend zu verstreuen. Die Männer standen schon mit geschwungenen Äxten da. Mit Peitschenhieben trieb sie sie auseinander, ließ sie, wie Löwen im Zirkus, nackt in einer Reihe strammstehen. Sie zog sich selbst aus. Sie erklärte, dass keiner von ihnen den anderen irgendetwas voraus habe und dass sie ihnen das auf der Stelle beweisen werde.
Es folgten zwei Tage und Nächte ohne Essen und Trinken, in denen sie sich auf den mit Buchenlaub gefüllten Säcken in Gegenwart aller übrigen einen
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