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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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fragte sich: »Wäre ich ohne Barles, ohne dieses Tal, ohne diese Einsamkeit, der geworden, der ich bin? Wäre mir das geschehen, was mir jetzt geschieht?« Aber er hatte kein Heft mehr, in das er seine bitteren Überlegungen hätte niederschreiben können, und allein die Tatsache, dass er sein Moped bestiegen hatte, trieb ihn voran. Außerdem blies ihm der Wind munter in den Rücken, als er hinter dem Schuppen hervorkam, sodass er den ganzen Feldweg lang wie ein abgefallenes Blatt vorangetrieben wurde, bis er schließlich zur asphaltierten Straße gelangte.
    Er fuhr durch einen Teil des verschlafenen Dorfs. Die Fenster waren fest verschlossen, und kein Licht leuchtete den Schlaflosen, außer dem der Straßenlaternen, die die Einöde erhellten. Er bog in die Schlucht bei Verdaches ein. Als er an den vereinzelten Höfen vorbeifuhr, fingen hin und wieder Hunde an zu bellen. Die Strömung des Bès übertönte den Lärm des Mopeds. Er fuhr an Dorfbrunnen, Scheunen und Weilern vorbei. Dann und wann begrüßte ihn bei der Durchquerung von Verdaches der Hauch schlecht geschlossener Ställe. An der Abzweigung von Seyne bog er nach rechts ab. Der Geruch der Tannen und der feuchten Wiesen, die am Hang entlang anstiegen, kam ihm stoßweise entgegen.
    Er wunderte sich, dass er beim steilen Anstieg des Passes nicht zusätzlich in die Pedale treten musste, als habe sich der Wind, der ihn schon in der Schlucht vorangetrieben hatte, auf seinen Befehl hin mit ihm gedreht, als würde er ihn tragen, als wäre sogar sein Fahrzeug überflüssig geworden und er selbst ohne es genauso gut vorangekommen, solange nur der Wind mit ihm war.
    Dort oben unter dem wolkenverhangenen Mondschein und den im Karree stehenden Tannen, die wie Pfeiler das Gebirge zu stützen schienen, glänzten die Granithänge des Estrop: Das Wasser war zu starren, glitzernden Rinnsalen gefroren, die nun sehnsüchtig auf den Schnee warteten.
    Der Mann sog diesen Anblick in sich auf, und ebenso wie der vertraute Geruch der Kaninchen von vorhin hätte ihn dieses edle und reine Alpenpanorama beinahe davon abgehalten, weiterzufahren, und zur Umkehr veranlasst. Schließlich gehörte auch dies zu seiner untadeligen Vergangenheit. Es war ein Teil von alledem, das zu lieben er jetzt nicht mehr würdig war.
    Doch der Wind war zu günstig. Er machte es ihm nur allzu leicht. Der Mann wusste sehr wohl, dass eine Umkehr nur einen Aufschub bedeutet hätte. Er hatte schon öfter versucht, von seinem Vorhaben abzulassen, und mehrmals war ihm dies auch gelungen. Aber dieser Triumph war nie von Dauer. Er wusste, dass er früher oder später erneut dem allzu großen Anreiz des Einsatzes erliegen würde, um den es ging. Er wusste auch, dass die Gerechtigkeit, die am Ende immer das letzte Wort hat, ihre Netze immer enger um ihn ausspannte, dass er nicht stark genug war, dass seine ganze List den Tag der Abrechnung höchstens hinauszögern konnte, dass er am Ende noch gefasst werden würde, wenn das alles zu lange dauerte. Er hatte also keine Zeit zu verlieren, und er verlor auch keine.
    Er ließ den Gipfel des Passes hinter sich und raste ins Tal hinunter. Als er aus den Tannenwäldern hervorkam, breitete sich der Ort La Javie in voller Größe vor seinen Augen aus. Trotz des Windes und des Mondes war er unter einer Wolkendecke eingeschlossen, die wie eine kohlrabenschwarze Haube über ihm lag. Einzig der Lichthof von Digne und die Lichter der Dörfer am Horizont erhellten die Finsternis. Dazu ließ das fahle Mondlicht die dunkel glitzernden Geröllhalden, die roubines, und die verfallenen Gehöfte unter diesem unheilvollen Schatten aufleuchten.
    Als der Unbekannte durch La Javie fuhr, schlug es vom Kirchturm unter den Kastanienbäumen zwei Uhr. Er kam an einem sich regenden Schatten vorbei. Ein Bäckergeselle im Unterhemd wusch die Backbleche der Croissants unter dem fließenden Wasser des Dorfbrunnens ab. Er war so in seine Arbeit vertieft, dass er den späten Passanten keines Blickes würdigte.
    Durch die offene Tür der Bäckerei auf der gegenüberliegenden Straßenseite strömte der Duft des frischen Brotes und war über hundert Meter hinweg wahrzunehmen. Auch diese Empfindung gab dem Mann seine Seelenruhe zurück. Er hatte den Duft noch in der Nase, als er in die unwegsame Straße einbog, die halb Wildbach, halb Weg war und in die Gegend von Chavailles führte. Aber der allzu günstige Wind trug ihm schon eine Ahnung von dem Tal entgegen, in dem er hoffte, zu guter Letzt vielleicht

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