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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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nach dem anderen vornahm. Danach war für die Männer die Welt eine andere geworden. Während Violaine, wenn sie allein mit einem von ihnen zusammen war, schon einmal einige Schreie entfuhren, hielt sie nun allen unbewegt stand, ohne ein Erschauern, ohne einen Seufzer. Seit dieser Erfahrung waren sie nie wieder eifersüchtig aufeinander und warteten geduldig, bis sie an der Reihe waren.
    Bei solchen Gelegenheiten zeigen sich die Vorteile der Habsucht: Man kann alles auf einmal mitnehmen, ohne dabei in Verlegenheit zu geraten. Der Notar, dem Violaine, kurz nachdem sie Witwe geworden war, ihre Jungfräulichkeit geopfert hatte, machte ihr hinsichtlich dieser Begabung ein galantes Kompliment: »Violaine«, sagte er, »die Hand voll Fleisch, die Sie auf den Knochen haben, ist ja wohl nicht mehr als eine kleine Zugabe zu einem überaus einnehmenden heißen Punkt.«
    Bei der Erinnerung daran brach sie in ein frisches Lachen aus. Sie stieg aus dem riesigen Auto, die Beine weit nach oben gestreckt, obwohl ihr niemand dabei zusehen konnte. Ihre Hand voll Fleisch ohne Rundungen trug triumphierend den Strauß aus roten Gladiolen.
    Sie war erleichtert bei dem Gedanken, dass das so gut verschnürte Paket auf der Rückbank in Sicherheit war. Sie schüttelte den Kopf. Nein. Das nicht, ganz bestimmt nicht. Trotz ihrer Äxte, ihrer breiten Schultern und ihres Mutes, der allenfalls noch von ihrer Dummheit übertroffen wurde, glaubte sie nicht, dass diese Naturburschen ein ernsthaftes Hindernis für den extravaganten Briefeschreiber darstellen könnten, der sie seit Monaten ermahnte, ihm den in diesem Paket befindlichen Gegenstand zu überlassen. Er wäre glatt dazu imstande, alle sechs umzubringen, um ihn in seinen Besitz zu bringen. Das hätte gerade noch gefehlt; sechs stämmige und dumme Waldarbeiter findet man nicht alle Tage.
    Wie jedes Mal, wenn sie dorthin zurückkehrte, und sei es nur nach einer kurzen Abwesenheit, wurde Violaine in ihrem Schwung gebremst, angesichts der Szenerie, die den Rahmen für ihr tägliches Leben abgab.
    Die aus den Steinen der Chanolette aufgeschichtete, nackte und reizlose Plattform, auf der die Gebäude standen, sah aus, als habe der Wald am Nordhang des Cheval-Blanc sie ausgewürgt wie einen schwer verdaulichen Brocken. Unter dem stumpfen Grün der Tannen bildete sie einen bleichen, halbmondförmigen Schmiss, der das hallende Tal verunstaltete. Seit hundert Jahren hatte sich dort kein Halm mehr hervorgewagt. Der Bergwind trug das immerwährende Grollen des Wildbachs über sie hinweg wie den Schrei eines verlorenen Tieres.
    Derjenige, der damals beschlossen hatte, ausgerechnet an dieser Stelle so mir nichts dir nichts eine Dynastie zu gründen, musste über eine geringe Vorstellungskraft verfügt haben.
    Alles strahlte eine bedrückende Dürftigkeit aus; der unter Schachtelhalmen verborgene Rost, der sich in den lehmigen Rinnen angesammelt hatte, aus denen die Abwässer langsam, aber unaufhörlich ins Tal hinuntersickerten, ebenso wie die schuppigen Gneise, die an den Rändern der roubines verstreut herumlagen. Die Arbeit der Erosion war überall zu spüren, man konnte unmittelbar sehen und hören, wie sie von den Ufern der Chanolette bis hoch oben an der Moräne am Werk war, die vom col de Lachen herunterquoll.
    Das nicht mehr benutzte Kraftwerk, wo der Rost von den Einfassungen der Verglasung abbröckelte, wo die Backsteine der hastig errichteten Mauern einer nach dem anderen im Winterfrost zersprangen, um dann nachts leise knackend vollends zu zerbröseln – auch diese Fabrik war fest im Griff der Erosion.
    In dem windschiefen Sägewerk mit seinen abgerissenen Kabeln war ein Holunderbusch aus dem Sägemehl hervorgewachsen, das die Fraser hinterlassen hatten. Der Fräskopf der Maschine wurde noch von zwei Spangenschlingen gehalten. Ein Lärchenstamm von zwanzig Tonnen war auf dem Zuführungswagen festgeschraubt und faulte dort langsam vor sich hin.
    Welche unvermittelt hereinbrechende Katastrophe hatte nur das geschäftige Treiben so plötzlich zum Erstarren bringen können? Nun, am Tag nach Maillards Hinrichtung waren die eingeschüchterten Arbeiter auseinander gelaufen und hatten alles im Stich gelassen, aus Furcht, es könne ihnen genau so ergehen wie ihrem Chef. Später hatten sie wohl versucht, die Arbeit auf eigene Faust wieder aufzunehmen, aber Violaine war dagegen. Die Fabrik, das Chalet, das Sägewerk, all das war Teil des Grabmals; sie wollte, dass alles im selben Zustand blieb wie in

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