Der Mörder mit der schönen Handschrift
aufgehängt, von denen die meisten gar nicht angeschlossen waren. Der Rauchabzug des nie benutzten Kamins war gespickt mit Leisten von Kesselhaken, die man, so gut es ging, nebeneinander befestigt hatte.
Jeden Tag legte sich der hellgelbe Schnee, den die Holzwürmer aus ihren Löchern beförderten, von neuem auf alle Gegenstände im Raum, so zum Beispiel über die imposante Sammlung von achtzig Jahrgängen der Jagdzeitschrift Chasseur français, die auf den Anrichten aufgestellt war. Zwei Putzfrauen, die täglich aus La Javie angefahren kamen, hatten mit der Beseitigung dieser Spuren alle Hände voll zu tun.
Auf einer vergoldeten Stuckanrichte prangte ein Bild, auf dem das Opfer dieser Stätte in ganzer Figur zu sehen war: das lange charmante Gesicht eines Schwerenöters der zwanziger Jahre, mit glatt gekämmtem Haar, das durch einen sorgfältig gezogenen Seitenscheitel gebändigt wurde. Sein graziler Körper war in eine Phantasieuniform gezwängt. Er sah halb nach Offizier, halb nach Bandenchef aus; die Reithosen und die Ledergamaschen betonten seine O-Beine.
»Nun, mein Schatz, schaut man heute Abend ein bisschen mürrisch drein oder täusche ich mich?«
Die Putzfrauen behaupteten, dass Violaine Selbstgespräche führte. Nichts war falscher als das. Es waren keine Selbstgespräche, sondern halbe Dialoge. Wenn man nämlich jahrelang ein Leben als Paar geführt und dabei immer wieder von neuem über die Gründe diskutiert hat, die einen daran hinderten, miteinander zu schlafen, dann wird diese Art von Unterredung zur festen Gewohnheit. Der Tod des einen unterbricht die höfliche Widerrede des anderen nicht, wenn auch der Überlebende normalerweise seinen Part des Dialogs für sich behält. Aber bei einigen Individuen mit unbeirrbar festem Charakter versiegt der Redefluss auch in solchen Fällen nicht.
Obwohl sie ihn schließlich doch noch geliebt hatte, so wie man endlich auch das Opium liebt, war Violaine nie ganz darüber hinweggekommen, im Leben immer einsam geblieben zu sein, sei es als kleines Mädchen, sei es als Ehefrau, Witwe oder Geliebte. Nie war sie aus dem grenzenlosen Erstaunen herausgekommen, in das sie diese Erkenntnis versetzte. Denn eines konnte sie freilich nicht über sich in Erfahrung bringen, dass nämlich diese Einsamkeit aus ihrer grundlegenden Unfähigkeit entstanden war, sich, habsüchtig wie sie war, einem anderen mitzuteilen.
»Na, mein Schatz! Ziehen Sie nicht so ein Gesicht!«
Sie riss spontan das Bild an sich, um durch das schützende Glas hindurch das auf Papier gebannte Gesicht zu küssen.
»Ja, ja, ich weiß schon. Wieder einer der Tage des Gedenkens an Ihren Tod. Aber schließlich ist es schon ewig her, das sollte Sie eigentlich kalt lassen.«
Sie stellte das Foto wieder auf die Anrichte und öffnete die Tür eines der aneinander gereihten Schränke. Tastend zog sie eine Flasche daraus hervor, holte sich vom Tellerbord einen Silberbecher, den einst irgendeine Patin einem Säugling geschenkt haben musste und der für reines Wasser bestimmt war.
Violaine füllte ihn zu zwei Dritteln und trank ihn in einem Zug aus.
»Uff, jetzt fühle ich mich besser!«
Es war ihr erstes Glas an diesem Tag. Wie viele musste sie davon noch leeren, damit ihre Betrunkenheit glaubwürdig war? Sie vertrug den Alkohol zu gut. Aber die beiden Putzfrauen mussten sie morgen früh unbedingt vollständig betrunken auf dem Sofa im Wohnzimmer vorfinden, das Bild ihres Verstorbenen an den Leib gedrückt und die umgefallene Wodkaflasche auf dem Boden vor dem voll aufgedrehten Radio; daran führte kein Weg vorbei.
Am Anfang betrank sie sich mit allem möglichen Zeug, dann war es Gin, aber seit sie den Wodka entdeckt hatte, trank sie in heiterer Gelassenheit. Am Tag nach den monatlichen Gedenktagen war sie so frisch, als hätte sie Wasser getrunken.
Sie ließ sich auf das Sofa gegenüber der Anrichte sinken und stellte die Flasche neben ihre Füße. Sie hatte den Eindruck, der Mann auf dem Bild habe nichts von seiner affektierten Haltung verloren.
»Na, na, mein Schatz! Nun sehen Sie mich mal nicht so strafend an. Das haben Sie gerade nötig, der Sie zehn Tote – soweit ich Bescheid weiß – auf dem Gewissen haben. Schon gut! Schon gut! Seien Sie doch ein bisschen ungezwungener mit mir. Sie wissen doch genau, dass ich nicht unter metaphysischen Zweifeln leide.«
Bei der Idee, die ihr durch den Kopf schoss, brach sie in ein kindliches Lachen aus.
»Ich habe es verstanden, mir ein Gesicht zuzulegen, das
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