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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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schnell an seine Grenzen, denn im nächsten Augenblick trat ein Mädchen aus der in Nebel gehüllten Menge hervor und bahnte sich einen Weg zum Büfett.
    Sie hatte einen breiten Rücken, einen kräftigen Hals und Arme so dick wie Schinkenkeulen; doch all dies wurde mit glücklicher Unbekümmertheit in der Hülle einer glatten, jungen, rosigen Haut dargeboten. Sie konnte nicht viel älter als sechzehn sein. Ihre ganze Erscheinung war harmonisch und gut proportioniert, dazu leicht und luftig wie eine bronzene Göttin von Maillol. Auf ihren Schultern trug sie die Maske einer Kriegerwitwe; der dazugehörige schwarze Schleier reichte ihr bis zu den Hüften. Mehr hatte sie nicht an.
    In dem Auf und Ab der Menge, die sich hinter der Erscheinung bewegte, glaubte Laviolette die Dünung der See zu erkennen. Wie Odysseus beim Anblick der grünen Wogen, aus denen der Gesang der Sirenen ertönte, war auch Laviolette zu keiner Regung fähig, während er zusah, wie das Mädchen durch die Wellen pflügte. Allerdings gab es niemanden, der Laviolette am Steuer festgebunden hätte. Er wurde von der Fülle des jungen Fleisches angezogen, und das Gewicht seines alten, müden Körpers schien ebenso von ihm abzufallen wie die Zurückhaltung, die ihn sonst auszeichnete. Er deutete sogar einige Tanzschritte an, die er seit langem vergessen zu haben glaubte. Selbst von der Unruhe, die ihn beim Anblick des als Pionier verkleideten Mannes ergriffen hatte, der sich inmitten der schillernden Farben den Luxus eines leichenhaften Graus leistete, fühlte er sich befreit. Das sollte er sich sein Leben lang nie verzeihen.
    Kein Zweifel, die Entschlossenheit, mit der sich Laviolette seinen Weg durch die Menge der Tänzer bahnte, galt dem Unbekannten, zu dem er gelangen und dem er seine Maskerade vom Leib reißen wollte. Aber die Hälfte dieses lobenswerten Impulses wurde von einem anderen Ziel abgelenkt: von der fülligen Kriegerwitwe, die er ebenfalls unbedingt in die Finger kriegen musste. Seine Gewissensqualen wurden dadurch gelindert, dass der Pionier und die Kriegerwitwe fast nebeneinander standen: Wenn man zu dem einen wollte, kam man auch zu der anderen. Da brauchte man sich nur einzureden, das ehrenwerte Ziel zu verfolgen, um dem fragwürdigen umso unbekümmerter nachgehen zu können.
    Laviolette traute dem Zufall nicht viel Gutes zu, aber in diesem Fall … Konnte er nicht mit Hilfe dieser höchst wirksamen Verkleidung sein Alter vor sich und den anderen verbergen? Womöglich würde das Mädchen mit den beeindruckenden Ausmaßen aus Nachlässigkeit, Nachgiebigkeit oder Gleichgültigkeit ihm erlauben, sie in den Arm zu nehmen und zu einem dieser anrüchigen Tänze auf die Tanzfläche zu entführen. Sollte ihm das gelingen, so käme er an diesem Weihnachtsabend in den Genuss einer schönen Bescherung – in der eigentlichen Bedeutung des Wortes. Ein Sterblicher, der von einer solchen Hoffnung geblendet wird, ist zu keinem nüchternen Gedanken mehr fähig.
    In dem Augenblick, als er das Ende der Treppe erreicht hatte und versuchte, zwischen den sich wüst verrenkenden und in vergeblicher Anstrengung keuchenden Paaren einen Durchlass zu finden, drang ein grell zuckendes Licht durch die Fenster, und ein feierliches Donnergrollen übertönte für kurze Zeit die Musik.
    Laviolette achtete nicht darauf; sein völlig aus dem Gleichgewicht geratener Geist war unempfänglich für Warnzeichen aller Art geworden.
    Bald hatte er fast die Hälfte des Weges zu seinem gelobten Land zurückgelegt, das sich zeitweise hinter den tanzenden Paaren verbarg. In einem Kalbskopf, der alle übrigen an Arroganz übertraf, glaubte er den von seiner Bajadere umschlungenen Richter zu erkennen. Er wollte ihn gerade rufen, besann sich dann jedoch eines Besseren. Er durchquerte die freie Stelle, in deren Mitte das Mädchen mit dem blonden Schamhaar auf ihrer Trommel spielte und ihren verhüllten Kopf immer noch starr auf den grauen Pionier gerichtet hielt.
    Es folgten drei weitere Blitze, deren greller Schein für einen Augenblick alle Farben im Saal verwischte; die Donnerschläge konnten den Lärm im Saal jedoch nicht mehr übertönen. Es schien allerdings, als sei ein weiteres von einer anderen Quelle ausgehendes Geräusch hinzugekommen, das eine gewisse Einheit in das Getümmel zu bringen schien und den Lärm in sich aufsog.
    Laviolette hatte alle Hindernisse überwunden, das auf den Böcken aufgebaute Büfett war nur noch wenige Meter entfernt. Das füllige Mädchen stand

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