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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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einem Stück geschmiedete Spirale von zwanzig Metern Länge, geriet wie eine eiserne Harfe ins Schwingen.
    Es schien, als könne sich das Haus noch immer nicht ganz von dem geschäftigen Treiben lösen, das doch bereits vor fünfzig Jahren erloschen war. Zu Lebzeiten von Monsieur Champourcieux (genannt Der Unbeugsame) hatte es dort geherrscht. Seit 1830 wurde in diesen Räumen ein Handel mit Lederwaren und Schusterbedarfsartikeln betrieben, als Familienbetrieb in ununterbrochener Folge. Beim Erklingen dieser Musik schien ein ganzer Schwarm von Lehrjungen, Handlangern und Gerbergehilfen, entsetzt bei dem Gedanken, man könne sie beim Zuhören ertappen, schleunigst durch die verlassenen Ställe, die Speicher und Trockenböden unter dem höchsten Dach von Digne das Weite zu suchen. Manchmal knatterte dort oben noch eine seit einem halben Jahrhundert auf einem Eisendraht vergessene Rinderhaut im Nachtwind.
    So füllten sich die leeren Tiefen dieses hässlichen Hauses, nach und nach, Akkord für Akkord, mit einer langen Reihe trauriger Schatten voll wehmütiger Erinnerungen. Und um dieses Schattenvolk zum Seufzen zu bringen, genügte es, dass Mademoiselle Véronique ihre dünnen, unberingten Finger, die von der sie völlig in Anspruch nehmenden Hausarbeit ris sig geworden waren, leicht über die Tasten des Klaviers gleiten ließ.
    Denn Ordnung und Sauberkeit waren bei ihr zu einer Manie geworden; aber die Ausmaße des Hauses entmutigten sie nach und nach, bei allem guten Willen, den sie hatte. Mit dem Aufräumen, Abstauben, dem Putzen der Fenster, der Dielen und der Kacheln wurde sie niemals fertig. Einige Kamine, wie der im Nähzimmer ihrer Mutter und der im Billardraum ihres Vaters, waren nie wieder von der Asche gesäubert worden, die seit vielen Jahren unter einer dicken Staubschicht lag, ebenso wie die Stiere mit quadratisch zurechtgestutztem Bart, die die Feuerböcke zierten. Einige Zimmer, einige Keller, einige Hängeböden, die ganz im Freien lagen, hatte Véronique seit ihrer Kindheit nicht mehr aufgesucht, als sie dort mit ihren Vettern und Cousinen Verstecken gespielt hatte.
    Ganz weit unten im tiefen Schatten, noch zehn Meter unter dem mit Brennnesseln bewachsenen Hang, der vom Haus aus nach Norden abfiel, befanden sich fünf oder sechs Walkmühlen, die seit einem Dreivierteljahrhundert stillstanden und in einer letzten ruckartigen Bewegung ihre unverrottbaren Holzarme ausstreckten.
    Der unerträgliche Geruch, der einst von dem reifenden Leder ausgeströmt war, hielt sich dort noch dicht am Erdboden und in den von Tannin gebräunten Gesteinsmulden, aber alles Stechende war verflogen, und nur ein leichtes Aroma von feinem Ziegenleder war zurückgeblieben.
    Aus diesen Kellerräumen gelangte man unmittelbar in die gähnende Röhre eines Kanals, aus dem schon lange kein Wasser mehr auf die Mühlen floss. Und sogar dort unten in tiefster Finsternis, unter den von Salpeter zerfressenen Gewölben, schwebten die dort oben im Wohnzimmer mit den roten Vorhängen angeschlagenen Noten noch zitternd in der Luft über dem ausgetrockneten schlammigen Unrat.
    In dieser Atmosphäre lebte Véronique Champourcieux, seitdem sie sich vor wenigen Jahren, nach dem Tod ihres Vaters, dem sie ihr Leben gewidmet hatte, ganz in ihr Haus zurückgezogen hatte.
    Draußen, über den von unverwüstlichem Steinbrech gesäumten Gartenwegen, heulte der Wind der Oktobernacht in den Platanen.
    Im Schutz der geschlossenen Fensterläden traf die Stadt Digne ringsumher ihre Vorkehrungen. Dieses schlafende, heimliche Digne: Um elf Uhr nachts konnte man hier in jeder erdenklichen Gestalt an der frischen Luft spazieren gehen, als leichenfarbener, wässriger Wiedergänger, als Karnevalsmaske, als Reiter mit goldenen Sporen, als leichtes Mädchen in durchsichtigen Dessous und geschnürtem Mieder, als unbeirrbarer Mönch in Holzsandalen, als Zauberer mit Zylinder und schwarzem Umhang, als Lama – warum eigentlich nicht? –, als tibetischer Lama, in schwarze Seide gehüllt und wie auf Meereswellen über die Bürgersteige des Boulevard Gassendi segelnd, in riesigen Schnabelschuhen mit aufgebogenen Spitzen in Form eines Jagdhorns. In all diesen Erscheinungsformen konnte man um diese Zeit in Digne umherwandeln, ohne das geringste Aufsehen zu erregen.
    Als hätte es eines Beweises bedurft, kam an diesem Abend zunächst eine Witwe in Trauerkleidung vorbei. Die hohen Absätze ihrer lackierten Pumps klapperten energisch auf dem Bürgersteig. Dann tauchte eine

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