Der Mörder mit der schönen Handschrift
hatten vor einer knappen halben Stunde mit der Untersuchung des Tatorts angefangen, als ich eintraf. Die Leiche und die Mordwaffe lagen immer noch da. Und diese Vorhänge waren zu!«
Er zuckte mit den Achseln.
»Schlicht und einfach vergessen. Sagen Sie bloß, so etwas wäre Ihnen in Ihrer Laufbahn noch nie vorgekommen!«
»Und ob!«, räumte Laviolette ein. Er saß unbequem auf dem Hocker, der auf dem Gestell stand. »Unmöglich«, brummte er. »Ich verstehe zwar nichts vom Klavierspielen … Aber selbst wenn man den Sitz vollständig herunterdreht, ist er noch zu hoch zum Sitzen! Sie hatten Recht, dieser Hocker stand nicht vor dem Klavier.«
»Das sage ich doch die ganze Zeit!«
»Und was dann? Können Sie sich vorstellen, wie die arme Frau auf diesem Rost sitzend Klavier spielt? Nein! Und fast im Stehen? Genauso wenig!« Er bemerkte die zugeklappten Noten auf dem Klavier, nahm sie an sich, öffnete sie und stellte sie auf das Notenpult. »Und dann auch noch eine Sonate von Brahms. Eine Brahms-Sonate im Stehen? Nie und nimmer!«
»Nie und nimmer!«, ertönte das Echo aus Chabrands Mund.
In diesem Augenblick bemerkte Laviolette im Notenheft eine hervorstehende Büroklammer. Ohne nachzudenken, öffnete er das Heft an der entsprechenden Stelle. Ein Brief und der dazugehörige Umschlag, beide durch die Büroklammer zusammengehalten, kamen zum Vorschein.
Weder Laviolette noch Chabrand, der dem Kommissar über die Schulter gesehen hatte, machten die geringsten Anstalten, dieses Beweisstück anzufassen. Beide wussten nur zu gut, wie vorsichtig man mit so etwas umzugehen hatte. Laviolette stieß lediglich einen kleinen Pfiff aus, während Chabrand die Anschrift auf dem Umschlag vorlas
Mademoiselle Véronique Champourcieux 4, rue des Carmes Digne (Basses-Alpes)
und schließlich den Bibelvers ganz unten auf den letzten Notenlinien des sonst leeren Blattes:
Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.
»Liegt hier nicht irgendwo eine Tüte herum, in der wir das alles sicher aufbewahren können?«, keuchte Laviolette.
»Schauen Sie doch mal dahinten auf dem Tischchen. Vorhin habe ich dort einen Stoß Zeitschriften gesehen. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn …«
Chabrand ging in die Richtung, wühlte ein bisschen herum und kehrte mit leeren Händen zurück.
»Wenn wir das Notenheft zuklappen, sind Brief und Umschlag in Sicherheit.«
»Ein Brief …«, sagte Laviolette nachdenklich. »Also hat sie vor ihrem Tod eine Warnung erhalten. Und der Brief scheint ihr so wichtig gewesen zu sein, dass sie den Umschlag aufbewahren wollte …«
»Und sie scheint so besessen davon gewesen zu sein, dass sie den Umschlag nicht aus den Augen lassen wollte, während sie Brahms spielte«, betonte Chabrand. Er grinste höhnisch: »Ganz nebenbei gesagt: Ich kenne da ein paar Leute, die etwas von mir zu hören kriegen werden, weil sie nicht daran gedacht haben, in diesem Notenheft nachzusehen …«
»Ach, Quatsch! Seien Sie doch nicht albern!«, schimpfte Laviolette. »Wären Sie vielleicht darauf gekommen? So ein Notenheft, was ist das schon? Ich habe es aufgemacht, ohne mir etwas dabei zu denken. Aber sagen Sie mal, ehe wir den Brief in Sicherheit bringen … Das Licht ist so schlecht. Sie mit Ihrer Brille, was können Sie auf dem Poststempel erkennen?«
Chabrand beugte sich vor.
»Barles 4. Oktober.«
Laviolette fing wieder an, auf dem großen Teppich herumzugehen, und trat dabei die drei Horaces mit seinen Füßen. Er ging auf die Fenster zu und schaute nach draußen. Vor dem Lichtschein der Straßenlaternen zeichneten sich die Umrisse der sich rhythmisch wiegenden Bäume gegen den dunklen Himmel ab. Laviolette schaute jedoch weit über dieses Wogen hinaus.
»Barles …«, sagte er leise. »Meine Mutter stammt von dort. Bevor sie meinen Vater heiratete, einen Eisenbahner, hatte sie in ihrem Leben noch nie einen Zug gesehen. Und wenn ich Barles sage, ist das eher ein Euphemismus. Sie wurde eigentlich in Esclangon geboren. Wissen Sie vielleicht, wo das liegt, Esclangon?«
»Keine Ahnung«, murmelte Chabrand.
»Wir fahren hin, dann werden Sie ja sehen. Dieser Brief kommt also wirklich aus Barles?«
Nachdem er sich im Salon umgesehen und alle Wandschränke geöffnet hatte, war Chabrand endlich eine dieser Plastiktüten mit groß aufgedrucktem Firmennamen in die Hände gefallen, worin die Verkäufer verstauen, was die Damen dann nach Hause tragen. Mit einer Bewegung seiner behandschuhten Hände
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