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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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deutete er an, dass er vorhatte, das Notenheft in die Tüte zu stecken.
    »Augenblick noch!«, rief Laviolette. »Lassen Sie mich eben noch diese schöne Handschrift bewundern. Sie sieht aus, als ob sie mit einer Schablone gezeichnet worden wäre.«
    Er beugte sich über das leere Notenblatt, um die beiden Zeilen ganz unten zu entziffern.
    » Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden « , las er stockend. »Von dem Schriftgutachten dürfen Sie nichts erwarten, mein lieber Chabrand. Nicht umsonst wurde liniertes Papier verwendet. Jeder Buchstabe füllt genau den Abstand zwischen zwei Linien aus; das wurde nicht geschrieben, sondern gezeichnet. Das gilt übrigens auch für die Anschrift auf dem Umschlag.«
    »Je nun …«, murmelte Chabrand. »Und in puncto Fingerabdrücke …?«
    »Versprechen Sie sich da auch nicht zu viel davon!«
    »Da wäre ich nicht so sicher. Mit den Mitteln, über die wir heute verfügen, werden wir schon irgendetwas herauskriegen.«
    Laviolette stand immer noch da, aufnahmebereit für die Stimmung des nächtlichen Digne, die er durch die Fensterscheiben hindurch erahnte. Er schüttelte langsam den Kopf.
    »Was kann wohl die arme Véronique mit falschem Maß gemessen haben?«, fragte er sich laut.
    »Wer weiß? Womöglich ihre Unschuld«, sagte Chabrand.
    » Virgo intacta mit dreiundvierzig Jahren und das heute in Digne, das ist schon eine Glanzleistung.«
    »Jedenfalls stimmt es nicht, dass nichts gestohlen wurde! Der Sitz, auf dem das Opfer saß, wurde auf jeden Fall gestohlen. Worum könnte es sich dabei gehandelt haben, Ihrer Meinung nach? Und wozu hatte sie den Hocker weggestellt?«
    »Wenn ich daran denke, dass ich Sie geholt habe in der Hoffnung, Sie würden etwas Licht in diese Angelegenheit bringen!«, spottete Chabrand. »Dann erscheinen Sie auf der Bildfläche, und nachdem Sie sich alles angeschaut haben, ist genau das Gegenteil der Fall: Alles ist ein bisschen dunkler als vorher!«
    Auf komische Weise breitete Laviolette seine Arme aus, um seiner Hilflosigkeit Ausdruck zu verleihen. Chabrand schaute ihn von oben herab an, als wolle er einen Schüler rügen.
    »Nachdem Sie sich der Sache angenommen haben, bleiben mir jetzt gleich zwei Dinge zu tun: Ich muss meine Männer auf die Spur – Spur, dass ich nicht lache! – einer wie auch immer gearteten Sitzgelegenheit setzen und den Verfasser eines mit einer Schablone geschriebenen Briefes ausfindig machen.«
    »Der aus Barles kommt, vergessen Sie das nicht!«
    »Wie konnte ich das vergessen? Aus Barles, wo irgendwer aus irgendwo diesen Brief unbemerkt in den Briefkasten geworfen haben kann! Also wirklich, Sie sind noch ganz der Alte: eine Art Pythia ohne Dreifuß!«
    »Auf jeden Fall eine Pythia mit eiskalten Füßen!«, klagte Laviolette. »Die Atmosphäre dieses Hauses lässt mich erstarren! Lassen Sie uns schnell von hier verschwinden, wenn Sie nicht meinen Tod auf dem Gewissen haben wollen.«
    »Bah! Als ob es da drüben gemütlicher zuginge, bei Ihnen im Popocatepetl « , spottete Chabrand.
    Doch Laviolette wollte nichts mehr hören. Er machte eine abwehrende Gebärde, kehrte dem Schauplatz des Dramas den Rücken, rannte die Treppe hinunter und stürzte buchstäblich aus dem Haus. Mit all dem wollte er nichts mehr zu tun haben. Schließlich hatte Chabrand genug funktionsfähige Organe hinter sich, um eine Untersuchung erfolgreich abzuschließen.
    »Ich bin schon bedient, wenn ich das alles in der Presse verfolge«, schimpfte er.
    »Besten Dank!«, antwortete Chabrand, nachdem er ihn eingeholt hatte. »Ich weiß Ihre gute alte Kameradschaft zu schätzen!«
    Beide beugten sich über das widerspenstige Türschloss. Laviolette stemmte sich gegen die Tür, während Chabrand sich bemühte, abzuschließen.
    Als sie sich nach dieser Anstrengung, die ihnen einiges Stöhnen abverlangt hatte, umdrehten, trauten sie ihren Augen nicht. Der Wind strich über eine vom Vollmond hell erleuchtete Szene nach Art jener Modeplakate, die in der Zwischenkriegszeit die Rallye Paris – Saint-Rapha ë l begleiteten.
    In eleganter Haltung stand eine Dame in einem langen Mantel mit Federboa vor einem weißen Delage Baujahr 1930.
    »Sehe ich richtig, oder ist es nur ein Traum?«, flüsterte Laviolette Chabrand zu. »Da steht meine Traumfrau. Die Frau, von der ich geträumt habe, als ich zwölf war!«
    »Ich bitte Sie! Wenn schon Traum, dann wohl eher Albtraum!«, murmelte Chabrand. »Ich kenne doch Ihren Geschmack. Die Dame da ist

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