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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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außerordentlich dünn, außerdem hat sie Salzfässchen über den Schlüsselbeinen und wenig Busen. Kommen Sie zu sich!«
    Sie gingen auf die Frau zu. Obwohl es zwei Uhr nachts und ziemlich kalt war, rührte sie sich nicht von der Stelle. Mit ihren ausgezogenen Handschuhen schlug sie ungeduldig auf ihre linke Hand, und man konnte spüren, dass sie ihre schwere Handtasche bereithielt, um sie ihnen beim geringsten Anzeichen einer Gefahr um die Ohren zu schlagen.
    »Nur zu!«, rief sie aus. »Lassen Sie sich nicht stören! Neuerdings sieht man sogar bei den Toten nach, ob da nicht was zu holen ist!«
    Chabrand musterte die Frau von oben bis unten mit unverhohlener Unverschämtheit und ließ sein im Gerichtssaal erprobtes Schweigen eine Zeit im Raum stehen, bevor er schließlich fragte: »Wer sind Sie?«
    »Und wer sind Sie?«, erwiderte die Frau in aggressivem Ton.
    »Ich bin der Untersuchungsrichter.«
    »Soll ich Sie vielleicht dazu beglückwünschen?«
    Sie wandte sich Laviolette zu, der möglichst wenig in Erscheinung treten wollte. Vor ihm erschien ein Gesicht mit sorgfältigem Make-up, falschen Wimpern, blauem Lidschatten, einem kirschroten Mund und einer aggressiv blonden Dauerwelle à la Mary Pickford als Krönung des Ganzen. Aus dem Mittelpunkt dieser seltsamen Aufmachung aber blickten angstvolle Augen. Aus Angst hatte sie sich so aggressiv gebärdet, und diese lächerliche Kriegsbemalung war ein Schutzpanzer.
    »Und dieser … Herr da ist vermutlich Ihr Schriftführer?«
    »Keineswegs«, antwortete Chabrand, »er ist einfach ein Freund.«
    Mit hochgezogenen Augenbrauen fuhr sie fort: »Heißt das, dass Sie ohne einen Durchsuchungsbefehl so einfach bei den Leuten eindringen?«
    »Es handelte sich nur um eine kleine Überprüfung«, erklärte Chabrand geduldig.
    »Aber immerhin tragen Sie ein verdächtiges Paket unter dem Arm? Wo haben Sie das her und was enthält es?«
    Selbst im Mondschein war nicht leicht zu erkennen, wie Chabrands blasses Gesicht noch bleicher wurde. Laviolette wusste, dass es nie gut ist, dabei zu sein, wenn die Großen dieser Welt in flagranti bei einer Vorschriftswidrigkeit ertappt werden. Obwohl Chabrand natürlich nicht zu diesen Großen gehörte, hatte er doch eine gewisse eitle Ungeduld mit ihnen gemein. Laviolette gab sich also alle Mühe, nicht mit anzuhören, wie sich der Richter gegenüber der Dame herausreden würde. Er hielt sich etwas abseits und tat so, als bewundere er die schöne Nacht.
    »Das Paket ist keineswegs verdächtig«, sagte Chabrand mit ruhiger Stimme. »Ich hatte es dabei, als ich herkam; ein paar Einkäufe, die ich vorher gemacht hatte.«
    Aus der Zeit, als er sich mit Dialektik beschäftigt hatte, war ihm die Fähigkeit geblieben, mit größtem Selbstbewusstsein unbekümmert zu lügen.
    »Im Übrigen haben Sie sich noch nicht ausgewiesen«, fügte er hinzu. »Und vor allem haben Sie mir nicht erklärt, was Sie hier um zwei Uhr morgens zu suchen haben. Vergessen Sie nicht, ein Mörder kehrt immer an den Ort seiner Tat zurück!«
    Er musste die Unbekannte um jeden Preis von dem Paket ablenken, das er unter dem Arm trug. »Ohne jegliche gesetzliche Grundlage«, dachte Laviolette, der dem heuchlerischen Amtseifer des Richters die gebührende Bewunderung zollte.
    »Na so etwas!«, rief die Frau verblüfft aus. »Verdächtigen Sie mich etwa? Ist das ein Verhör?«
    »Ja, genau darum handelt es sich. Was hatten Sie in dieser Allee auf nicht öffentlichem Grund um zwei Uhr morgens vor dem Haus dieser armen Frau zu suchen?«
    »Dieser armen Frau!«, stieß die Dame empört aus. »Meine Schwester und eine arme Frau? Dabei hat sie mich ausgeplündert. Sie hat alles gekriegt außer … na ja … einer Kinderei!«
    »Ihre Schwester?«, fragte Chabrand. »Bei der Beerdigung habe ich Sie aber nicht gesehen.«
    »Nach allem, was sie mir angetan hat? Sie machen wohl Witze! Wir haben uns nicht mal gegrüßt! Und dann zur Beerdigung gehen? Hören Sie, das hätte ich mir nie verziehen!« Sie ging einen Schritt auf Chabrand zu und packte ihn energisch an einem Zipfel seines Carricks. »Aber vielleicht interessiert es Sie, dass ich diesen Mord schon längst selbst begangen hätte, wenn ich es mir zugetraut hätte! Sie haben ja keine Ahnung, was für einen miesen Charakter meine Schwester hatte! Meinen Sie vielleicht, sie sei rein zufällig eine alte Jungfer geblieben? Aus reinem Geiz, sage ich Ihnen! Nur nichts hergeben, ja nichts loslassen! Alles wollte sie für sich: Unsere alten

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