Der Mörder mit der schönen Handschrift
nach dem anderen, geduldig, vielleicht über tausend Jahre hin, durch Missernten und üble Angewohnheiten wie Erdrutsche und immer wieder Hochwasser; denn der Bès, so schmal er war, konnte doch in kürzester Zeit hundert Meter breit werden. Ein Land, das sich bemühte, selbst die Hartnäckigsten loszuwerden wie lästige Läuse im Pelz, einfach durch Pech. Trauerfälle oder zu viele Kinder. Ein Land, das die Überlebenden immer wieder mit unabwendbaren Schlägen überraschte, sie mit heimtückischer, unvorstellbarer Arglist um die Ecke brachte.
Und dennoch blieben welche übrig! Und je weiter er auf dieser Straße am Ende der Welt fuhr, desto sicherer war sich Laviolette, dass immer welche übrig bleiben würden. Denn die Liebe zu einer Gegend lässt sich nicht daran messen, wie wohlwollend sie ist und wie viel Trost sie spendet, vor allem nicht in der Gegend um Barles, wo schon der kleinste Fels – und davon gibt es weiß Gott genug – ohne Vorwarnung zu Hexenwerk werden kann. Man weiß, dass sie da stehen, aufrecht zwischen den dünn gesäten Wacholderbüschen. Schon von Ferne winken sie freundschaftlich herüber, gespenstisch blass, schemenhaft und unbeweglich, und sie verschwinden, sobald man sich ihnen zu nähern vermeint. Sie glauben, da sei nichts weiter dran, an so einem Land, über dem sich nur die weite Fläche des Himmels kräuselt? Es ist nur schwer zu fassen, wie eine glitschige Natter, die sich gerade gehäutet hat und die einem durch die Finger gleitet, sobald man versucht, sie festzuhalten. Zehn Schriftsteller, sechzig Maler, sie alle haben vergeblich versucht, diesem Land den Bauch zu öffnen, in sein Innerstes vorzudringen und es sich in der Einbildungskraft ein für alle Mal anzueignen.
Das hier war einer der Orte, die Laviolette so stolz darauf machten, ein Bas-Alpin zu sein. Hier spürte er die unendliche Überlegenheit der Menschen seiner Herkunft gegenüber der Einsamkeit, der ewigen Armut und dem immerwährenden Unglück.
Kleine ausgefranste Nebentäler gingen rechts und links vom Haupttal ab, deren Felder wie die Fetzen eines von gewaltigen Dornen zerschlissenen Mantels dalagen. In einem letzten Aufflammen sagten die wenigen Bäume dem Sommer Lebewohl.
Am Ende dieser Taleinschnitte warteten karge Gipfel schon auf den Schnee: die Cloches de Barles, die montagne de Chine und weit oben der Blayeul unter seinem grünen Kleid aus Bäumen und duftenden Kräutern, dessen Rücken so nah ist, dass er von unten betrachtet riesig groß erscheint, obwohl er nur zweitausend Meter hoch ist.
Unter dem Vorwand, pinkeln zu gehen (denn die Menschen unserer Zeit brauchen immer einen Vorwand, um sich ihren Träumereien hinzugeben), stieg Laviolette vor dem Pas de Pierre aus, der wie ein Tor die clue de Barles abschließt. Zweihundert Meter senkrecht aufsteigend beugt sich der Pas de Pierre über das Nichts und überragt den Bès wie eine trotzige Stirn, eine gewaltige gekrümmte Wand aus einem Guss, die nur durch den zehn Meter breiten Spalt durchbrochen wird, durch den sich der Bès und die Straße schlängeln.
Am Fuße dieser Wand zeugt eine Ansammlung von zwei bis fünf Tonnen schweren Felsbrocken davon, dass die Felswand sich manchmal, alle hundert Jahre vielleicht, schüttelt, um die Überlast an Schutt loszuwerden, die sich durch Erosion angesammelt hat.
Doch diese Bedrohung lässt phantasielose Menschen kalt. Irgendjemand, der schon vor langer Zeit gestorben ist, sah in dieser Felswand nichts weiter als ein ideales Sonnenplätzchen und hat sich dort, direkt auf dem Felsen, ein behagliches Sommerhäuschen eingerichtet, mit blauen Fensterläden, zwei Liegestühlen und einem handtuchbreiten Kräutergarten. Seine Nachkommen haben ihn beerbt, ohne dabei mehr zu befürchten oder zu verstehen. In der Tat bewegt der Wind, der durch die enge Schlucht pfeift, nie die Bäume auf dem Grundstück; die Felswand wird ihnen immer ein Schutzschild sein, bis zu dem Tag, an dem sie auf das Haus stürzt.
In all den Jahren, die er dieses Land nun schon erforschte, war Laviolette niemals müde geworden, sich in die Betrachtung dieses seltsam feindseligen Naturschauspiels zu versenken. Seit seiner Jugend kam er hierher, wenn seine Seele aufgewühlt war, um wieder zur Ruhe zu kommen.
Er ging zu Fuß in die dunkle, hallende Spalte, wo mit dem Hammer Engstellen erweitert und Tunnel gegraben worden waren, in denen Quarzadern funkeln. Der Spalt ist so fein verzweigt, so gewunden und bizarr gezackt, dass man meint, sich
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