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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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hinmurmelte, die nicht zu seiner Ruhe passen wollten: »Nein. Das wirst du nicht durchhalten. Du wirst dir doch nicht von deinem Gewissen in den Hintern treten lassen wollen. Es wäre doch zu überlegen, ob es in dieser Geschichte nicht irgendwo einen Anhaltspunkt gibt, der eine Einmischung rechtfertigt. Natürlich ohne Staub aufzuwirbeln! Denk dran, wie empfindlich du auf Amateurdetektive reagiert hast, als du noch im Dienst warst.«
    Er sah sich in der schönen Rolle des opferbereiten Staatsdieners: der ehemalige Bulle, der sich noch einmal in die Tretmühle begibt, um der an fehlendem Nachwuchs krankenden Polizei auf die Sprünge zu helfen.
    In Wirklichkeit betrachtete er diese geheimnisvolle Geschichte wie ein Kind das Schaufenster eines Zuckerbäckers: lechzend vor Begierde. Er lag nachts stundenlang wach und genoss es, immer wieder einen einzigen Satz zu wiederholen: »Mit welcherlei Maß ihr messet, wird euch gemessen werden.« Er sah das Klavier, den Salon, die Lederwarenhandlung Champourcieux genau vor sich. Mehr als einmal war er abends um sie herumgeschlichen.
    Der Richter Chabrand hatte angerufen, um ihm die Untersuchungsergebnisse mitzuteilen: »Auf dem Brief selbst sind, wie Sie sich wahrscheinlich denken können, nur die Fingerabdrücke des Opfers«, hatte er erklärt. »Allerdings haben wir auf dem Umschlag sechs verschiedene Abdrücke entdeckt. Sie hatten wohl auch mindestens so viele erwartet, oder nicht? Außer denen des Opfers konnten wir vier identifizieren: Da wären der Briefträger, zwei Briefsortierer und die Posthalterin in Barles. Was den sechsten angeht: unbekannt. Auf alle Fälle wissen wir, dass er erdige Finger hatte, daher kann man die Abdrücke besonders gut erkennen. Selbstverständlich konnte uns die Posthalterin in Barles nicht sagen, wer den Brief eingeworfen hat.«
    »Selbstverständlich nicht!«, bekräftigte Laviolette höhnisch.
    »Was Véroniques Schwester mit dem weißen Delage betrifft, die sie so sehr zu hassen schien, die hat ein gutes Alibi für die Mordnacht: sie war den ganzen Abend im Nachtclub Picrocole, und einige der Typen, die dort rumhängen, haben versichert, dass sie mit ihr getanzt haben. Sie war offenbar recht angeheitert, als sie gegangen ist, mit vier großzügig dosierten Gin-Fizz im Kopf. Kommt wohl öfter vor.«
    »Das Snobgetränk ihrer und meiner Jugend«, dachte Laviolette. »Gleichzeitig mit uns aus der Mode gekommen.
    So, dass man heutzutage keinen einzigen Barkeeper mehr findet, der das Zeug anständig mixen kann.«
    Er erhob sich von seinem Sonnenplätzchen und stieg in seine ehrwürdige apfelgrüne Vedette, der man ansah, dass sie schon etliche Jahre auf dem Buckel hatte, und die er wie einen alten Hund hegte und pflegte.
    Die milde Oktobersonne tat seinen rheumatischen Gliedern gut. Wie immer fuhr er nur vierzig. Er überquerte die Bailey-Brücke und lenkte den Wagen auf die schmale, holprige, kurvenreiche Straße nach Barles, die in jeder Biegung hinter dem purpurnen Laub der Ahorne und Buchen verschwand. Auf den zwanzig Kilometern bis Barles hält die Straße geradezu beunruhigende Schönheiten bereit. Das Wasser des Bès begleitet sie und ist mit ihr durch viele bizarre Brücken verwoben; es fließt durchsichtig auf anthrazitfarbenem Grund in einem Bett, das zehnmal breiter ist als der Fluss. Die Luft, die über diese ungeheure Kies-und Schwemmbodenfläche streicht, ist voll klingender Leere wie eine tiefe Höhle. Der Wind jault darüber hinweg mit dem traurigen Ton der dunklen Wälder, aus denen er kommt.
    Das Tal steht im Einklang mit dem Fluss. Es gibt hier nur eine Jahreszeit: den Herbst. Wenn es Frühling wird, sind die Blätter schon zum Sterben bereit. Das Tal lächelt nur dann, wenn alles andere weint.
    Nur wer aus dieser Gegend stammt, ist für den Reiz dieses Tals empfänglich. Laviolette war es in höchstem Maße. Inmitten dieser Armut sprach alles zu ihm von Liebe. Vier verkrüppelte Apfelbäume in einem verfallenen Weingut, eine Scheune, aus der altes Heu quoll, das kein Vieh mehr fressen würde, manchmal auch ein Bauernhaus an einem Hang, wo noch Leben herrschte und die Wäsche draußen in der Nachmittagssonne zum Trocknen hing. Manchmal auch ein schnell durchquerter Weiler, der schon in tiefen Schatten getaucht war, die Luft schwer vom Geruch des Holzes unter den Trögen, in denen das Schweinefutter kochte.
    Dies alles waren die schwachen Lebenszeichen eines Landes, das nach und nach seine Bewohner untergekriegt hatte, einen

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