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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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zwischen zwei gegenläufige Faltungen der Erdkruste geraten ist, auf sich selbst zurück und kauert sich zusammen. Es sieht aus wie das angewiderte Gesicht eines Kindes, das in eine saure Frucht gebissen hat. Und im Winter ist auch der Himmel, der sich darüber wölbt, kaum liebenswerter. Das erklärt die Neigung der Bewohner zu etwas ungewöhnlichen Obsessionen: ein prachtvolles selbst geschaufeltes Grab, die Liebe außerhalb der gebahnten Pfade, die Gier nach ein bisschen Blut oder Geheimnis, das Bedürfnis, in dieser Welt vergängliche Güter zu erwerben, denn hier braucht man viel Phantasie, um nicht den Halt zu verlieren.
    Laviolette traf gegen halb fünf in Barles ein. Er war sofort von einer tobenden Kinderschar umringt, die das Tor der örtlichen Volksschule plötzlich ausgespuckt hatte und die schreiend im wirbelnden Laub auseinander stoben.
    Der aufreizende Geruch von verbrennenden Kastanienschalen, die manchmal mit einem dumpfen Geräusch explodierten, stieg mit dem Rauch hinter den Gittern des Schulhofes auf. Ganz allein in Staub und Wind trug ein Lehrer aus einer anderen Zeit – allem Anschein nach im Triumph – eine wimmelnde Masse gefangener Feldmäuse herbei, offenbar um sie ins eigens zu diesem Zweck entzündete Feuer zu werfen.
    Der Duft von Marmelade und im Ofen gegarter Quitten zog langsam durchs Dorf. Es konnte nichts Friedvolleres auf der Welt geben als Barles an diesem Oktoberabend.
    Unter einer eisernen Pergola, wo wilder Wein sein Laub abwarf, machte das grüne Bistro, das sich als Hotel mit vier Zimmern und Wirtsgarten ausgab, Laviolette ein verlockendes Angebot, aber er widerstand ihm. Er hatte gerade entdeckt, dass das Postamt noch geöffnet hatte, und lenkte seine Schritte in diese Richtung.
    Seit acht Tagen wusste die Félicie Battarel nun Bescheid, und ihre von Zellulitis gepolsterten Rundungen hatten seither nicht aufgehört, zu zittern wie Kalbfleisch in Aspik. Jeden Morgen kam mit der Post der Provençal für den Oberst Moutiers, der sich viel darauf zugute hielt, ein Linker zu sein. Die gute Félicie hatte sich angewöhnt, die Zeitung aus der Banderole zu nehmen und einen zerstreuten Blick hineinzuwerfen, bevor der Postbote damit losging. Und so kam es, dass sie vor acht Tagen die Schlagzeile wie ein Blitz traf: Furchtbares Verbrechen in Digne und darunter, etwas kleiner: Mademoiselle Véronique Champourcieux mit Bajonett ermordet. Darunter folgte ein vier Spalten langer Artikel.
    Seither zitterte sie. Denn den Brief, auf dem die schöne Schrift prangte und den Emile Pencenat aufgegeben hatte, hatte sie nicht vergessen. Zuerst hatte sie sich selbst zur Vernunft gerufen und sich gesagt, dass der Brief und das Verbrechen nichts miteinander zu tun hätten und dass sie zu viel Phantasie habe. Doch kaum hatte sie sich damit beruhigt, als zwei riesige Gendarmen rücksichtslos die Tür des Postamtes aufgestoßen und ihr unverzüglich ein Foto unter die Nase gehalten hatten, ein Foto des unheilvollen Umschlages, den sie aus der Postablage geholt, abgestempelt und sorgfältig untersucht hatte. Und sie wusste, dass es der Emile war, der ihn eingeworfen hatte.
    Seitdem waren noch zwei andere Gendarmen gekommen und dann auch noch zwei Inspektoren in Zivil, und alle stellten sie die gleichen Fragen: »Haben Sie an jenem Tage überhaupt nichts bemerkt? Konnten Sie die Person, die den Brief eingeworfen hat, nicht sehen, können Sie sie nicht beschreiben?«
    »Wie stellen Sie sich das vor?«, hatte Félicie sich entrüstet. »Bei all der Arbeit, die ich habe! Ich bin ganz allein hier, und dabei gäbe es Arbeit für mindestens drei!«
    »Sicher, sicher, aber es kommt doch vor, dass man meint, nichts zu sehen, und dann, ganz automatisch …«
    »Automatisch! Von wegen! Als ob ich mir die Zeit nähme, alles anzuschauen, was im Briefkasten landet und wer was einwirft! Also wirklich! Glauben Sie, ich hätte nicht so schon genug Sorgen? Und überhaupt, warum sollte ich denn etwas anschauen?«
    Sie ging auf die beiden zu, die Arme in die Hüften gestemmt, puterrot und bedrohlich, und drückte sie buchstäblich mit dem ganzen Gewicht ihres drohenden Busens zur Tür hinaus. Vor diesem Orkan strichen sie die Segel.
    Aber nachdem sie gegangen waren, klopfte ihr Herz wild unter seiner weichen Verpackung aus Fett … Seit acht Tagen log die gute Félicie schamlos, und das, obwohl sie als Ledige nicht ans Lügen gewohnt war; es machte sie krank.
    Aber es war notwendig. Die Verwaltung nahm es mit dem

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