Der Mörder mit der schönen Handschrift
mit dem Griff am Haken des Rundbogens festzumachen.
Sie beugte sich über den Brunnen. Dort unten, nur wenige Meter tiefer, glänzte und zitterte im Lichte des im Zenit stehenden Mondes die kreisrunde Wasserfläche wie ein geblendetes Auge. Ambroisine verschwendete keine Zeit damit, diesen Anblick zu bewundern. Tastend vergewisserte sie sich, dass der Haken, der in der Wand befestigt war, noch immer da war. Sie rüttelte an ihm, um seine Belastbarkeit zu prüfen. Schnell griff sie nach dem Paket und hängte es mit seiner dicken Schnur am Haken auf. Ein letztes Mal, als es gegen die Wand stieß, ertönte dieses dumpfe Grummeln, wie das Grollen eines entfernten Donners, das im Echo des Brunnens plötzlich bedrohlich wirkte.
Sie wollte sich gerade aufrichten, als ihr das Wasserauge dunkler zu werden schien, so als habe sich ein Schatten zwischen sie und den Mond geschoben. Dieser Schatten lähmte sie. Sie hielt den Atem an.
Um sie herum schien ein fremder Duft zu schweben. War es der Duft der Chrysanthemen, die in ein paar Töpfen um den kleinen Pavillon herumstanden und auf Allerheiligen warteten, um die Familiengräber zu schmücken?
Aber nein! Wie dumm von ihr! Bei aller Trauersymbolik verströmten die Chrysanthemen einen Duft, der dem Geruchsinn schmeichelte und – wenn auch nur undeutlich – festliche Erwartungen weckte.
Nein. Was Ambroisine da einatmete, schien auf die Nähe eines alten, kränklichen Mannes hinzudeuten – ein bitterer Geruch von Kamillentee.
Dies war der letzte Sinneseindruck, den Ambroisine in ihrem Leben empfing. Es folgte ein gewaltiger Knall: Der Eisendeckel war zugefallen und hatte auf seinem Weg die Halswirbel Ambroisines durchtrennt; sie hatte ihren Kopf nicht schnell genug zurückgezogen.
Für den Bruchteil einer Sekunde war das Klagen des Windes in den Zedern dem Geräusch des Fallbeils gewichen. Gleich darauf, als ob nichts geschehen wäre, begann wieder das Getöse im gleichförmigen Wellenschlag der geisterhaften Zweige.
Ungestört und friedlich herrschte das Klagen von nun an über die Nacht.
7
NACH und nach tilgte der Oktoberregen die letzten Spuren des Sommers rund um Digne. Ungeduldig drückte er die Köpfe der Sonnenblumen in den Gärten, die dahinwelkten wie vergessene Blumen in einer Vase, vollends zu Boden, riss die Rosskastanien und mit ihnen das Laub von den Bäumen und überließ sie auf den Alleen ihrem Schicksal.
Die Füße gegen die Lehne eines Sessels gestemmt, eine Katze auf dem Bauch, genoss der Pensionär Laviolette die Freuden des Herbstes. Zum fünften Mal schon las er Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Er war gerade bei den Birnbäumen von Combourg, und sein träges Gehirn kostete langsam und genüsslich Satz für Satz aus. Ungeniert nutzte er das Privileg, ganz allein durch eine Gemäldegalerie zu spazieren, in der, so schien es ihm, die Sisleys, Pissarros, Renoirs und Manets der ganzen Welt nur für ihn zusammengetragen worden waren. In zehn Zeilen vereinte Prousts Kunst sie alle und ließ allein durch Wörter die geheimnisvolle Verschwommenheit der sterbenden Farben hervortreten.
Zumindest war es das, was der Kommissar im Ruhestand Laviolette zu verstehen glaubte, und darauf kam es doch wohl schließlich an. Er seufzte immer wieder wohlig, und über sein gutmütiges Gesicht ging ein strahlendes Lächeln.
Da klopfte jemand an die Fensterscheibe.
Er drehte sich um. Hinter der Scheibe zeichnete sich im Schatten der Umriss des Richters Chabrand ab. Er steckte wie immer in seinem Carrick, in dem er aussah wie der Kutscher des Todes. Laviolette rief ihm zu, er solle eintreten.
Doch trotz dieser Einladung blieb der Richter eine Weile tief in Gedanken versunken vor der Glastür stehen, bevor er endlich die Klinke herunterdrückte, weil allein diese Geste so viele bittere Erinnerungen in ihm wachrief. Popocatepetl war einst das Grab des bescheidenen Optimismus gewesen, der ihm bei seiner Geburt mitgegeben worden war. Er musste sich jedes Mal überwinden, das Haus zu betreten.
Er wünschte Laviolette einen guten Abend, doch es klang eher wie ein Fluch. Wie immer wirkte er bekümmert. Eine Hepatitis hatte in seinem Gesicht um die große Brille herum ungesunde gelbe Flecken hinterlassen, die davon zeugten, dass sie nicht völlig überwunden war. Außerdem waren Kinn und Wangen von den Narben einer schlecht verheilten Akne entstellt, den Überbleibseln einer langen und schwierigen Jugend.
Chabrand nahm den Band vom Tisch, den Laviolette weggelegt
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