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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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gerade bekommen habe. Schauen Sie mal, Herr Notar, legen Sie sie doch bitte mal auf die Goldwaage. Einzeln! Aha! Siehst du! Deiner wiegt ein Gramm mehr! Siehst du, ich hatte Recht! Seht ihr, wie Recht ich habe, wenn ich niemandem traue!‹ Hier bin ich wohl arg ausführlich geworden«, gab Pardigon zu, »aber ich wollte damit zeigen, wo bei den Melliflores die stärksten Hemmungen lagen und welches die Kräfte waren, die sie antrieben. Und wenn Sie gut aufgepasst haben, dann sollten Sie jetzt wissen, dass es bei diesen Leuten üblich war, sich gegenseitig auszunehmen, und dass somit das gegenseitige Misstrauen der beiden Schwestern durchaus berechtigt war.
    Am Ende waren sie sehr enttäuscht. ›Das kann doch wohl nicht möglich sein! Ist das alles? Und sonst ist nichts da?‹ ›Was haben Sie denn alles erwartet?‹, fragte der Notar. ›Er sprach von einem Schatz!‹ ›So. Und wann sprach er davon?‹ ›Wenn er getrunken hatte!‹ ›Und wann trank er?‹, fragte der Notar. Und darauf beide wie aus einem Mund: ›Immer, wenn meine Schwester ihn eingeladen hatte!‹
    Von diesem Tag an haben sie nie wieder miteinander gesprochen. Sie sind unversöhnt gestorben. Sie haben übrigens auch nie wieder mit dem Notar gesprochen. Sie haben sogar ihre Ehemänner dazu gezwungen, ihm alle Rechtsgeschäfte zu entziehen. Und jedes Mal, wenn sie ihn getroffen haben, in der Kirche, oder anderswo, dann straften sie ihn mit einer Verachtung, bei der weniger gefestigte Charaktere im Erdboden versunken wären. Glücklicherweise sind die Notare unserer Gegend durchweg robuste Naturen.
    Kurzum! Selbst mich haben sie verdächtigt! Sie kamen einzeln zu mir. Alle beide haben es auf jegliche Art versucht. Die eine (es war die Mutter von Véronique) hat ein paar Scheinchen knistern lassen. Die andere (es war die Mutter von Ambroisine) hat mir ihre Möse vors Gesicht gehalten, zum Zwecke einer gründlichen ärztlichen Untersuchung, versteht sich. Das Ding war übrigens ziemlich fleischig, man konnte es wie einen Apfel in die Hand nehmen. Und dann dieses Dreieck aus gekräuseltem schwarzen Haar, das sah aus wie ein Kettenhemd. Heiliger Strohsack, so etwas habe ich noch nie gesehen!«, rief er aus. »Und in meiner fünfzigjährigen Laufbahn als Arzt hab ich weiß Gott einiges von der Sorte zu Gesicht gekriegt!
    Kurzum! Beide lagen mir in den Ohren: ›Reden Sie doch endlich! Er war doch bei Ihnen! Sogar öfters! Er muss Ihnen doch etwas gesagt haben?‹ Irgendwann hab ich ihnen dann entnervt gestanden, dass er mir sehr wohl etwas gesagt hatte: ›Ich habe einen Schatz gefunden. Meine Töchter sollen ihn nicht bekommen, denn das sind zwei Nutten!‹ ›So, jetzt wissen Sie, was er mir gesagt hat. Und jetzt ist Schluss!‹ Sie sind schwer beleidigt abgerauscht wie aufgeschreckte Hühner, und seither habe ich sie nie wieder gesehen.
    Selbstverständlich habe ich ihnen nicht erzählt, dass Gaétan Melliflore zuerst vorhatte, diesen angeblichen Schatz seinen Enkelinnen zu hinterlassen! So aufgebracht wie sie waren, wären sie dazu fähig gewesen, die Mädchen nackt auszuziehen und mit dem Kopf nach unten kräftig auszuschütteln! Die armen Kleinen (zu dieser Zeit waren sie zwischen acht und vierzehn Jahre alt), sie hätten die Hölle auf Erden gehabt! Ihre Mütter hätten sie mit Fragen zu Tode gequält! Und, unter uns gesagt, abgesehen davon, was er mir an seinem Sterbebett erzählt hat (aber da war er auch nicht mehr ganz bei Sinnen), was ich glaube, ist, dass Melliflore gar nicht mehr die Zeit hatte (man glaubt ja immer noch so viel Zeit vor sich zu haben), seinen Schatz irgendjemandem anzuvertrauen! Er hatte wohl nur noch die Zeit, ihn unauffindbar zu verstecken«, fügte er mit erhobenem Zeigefinger hinzu.
    »Nun? Dann ist er also ein für alle Mal verloren?«, fragte Laviolette.
    »Vielleicht nicht für jedermann … Ich hab da so eine Idee. Ich könnte mir … ich könnte mir vorstellen, worum … um was …«
    Nachdem er diese Wörter gestammelt und sie dadurch in die Länge gezogen hatte, flüchtete sich Doktor Pardigon in einen heftigen Hustenanfall, räusperte sich dann und spuckte in einem Anflug von Panik, so schien es, dieses Mal in sein Taschentuch.
    Laviolette, der Zeit gehabt hatte, den alten Mann eingehend einzuschätzen – zumindest das wenige, das dieser von sich preisgeben wollte –, Laviolette sagte kein Wort, er stellte keine Frage. Er pfiff leise ein munteres Liedchen vor sich hin.
    Pardigon beobachtete mit hochgezogener

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