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Der Mörder mit der schönen Handschrift

Der Mörder mit der schönen Handschrift

Titel: Der Mörder mit der schönen Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierre Magnan
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Augenbraue, wie Laviolette versuchte, gleichgültig zu erscheinen. Er wusste genau, dass Laviolettes Ohren, wenn sie sich denn hätten vergrößern können, diejenigen des Königs Midas in den Schatten gestellt hätten.
    In diesem Augenblick hörte man weit hinten im Park eine Glocke läuten. Doktor Pardigon erhob sich mit einem Mal, als riefe ihn das Sterbeglöckchen.
    »Also?« Laviolette strich bereits die Waffen. »Was könnten Sie sich vorstellen?«
    Der alte Mann hatte sich schon in Bewegung gesetzt, um dem Ruf der Glocke zu folgen.
    »Hören Sie nicht?«, sagte er. »Es gibt Essen! Der beste Moment des ganzen Tages!«
    Und mit weiten Schritten machte er sich auf der mit welkem Laub bedeckten Allee davon.
    »Aber danach?«, fragte Laviolette. »Da werden Sie mir doch alles erzählen!«
    »Später!«
    »Heute Nachmittag also?«
    »Keinesfalls! Nie am Nachmittag! Da ist Besuchszeit! Da kommen Besucherinnen, wissen Sie! Und die haben prachtvolle Hintern!«
    Laviolette gab auf. Er sah zu, wie der Neunzigjährige gut gelaunt zur täglichen Fütterung verschwand. Er wollte seinen Augen kaum trauen.

9
    INZWISCHEN nahmen die Dinge in Barles einen ungewöhnlichen Lauf.
    Pencenat war besessen von der Idee, sich seine rosafarbenen Marmorsäulen von diesem ehrenamtlichen Briefträger bezahlen zu lassen, der den Briefkasten am Friedhof dazu benutzte, das Schicksal anzukündigen.
    Jeden Mittwoch und Samstag verabschiedete er sich hastig nach der Partie beim Lehrer, um sich hinter den Geißblattbüschen am Wegesrand auf die Lauer zu legen. Er musste sich große Mühe geben, nicht gar zu schlecht zu spielen, denn das neue Spiel nahm ihn so sehr gefangen, dass ihm darüber alle anderen Zerstreuungen unwichtig wurden.
    Im Übrigen war in der abendlichen Runde eine kleine Veränderung eingetreten. Der sonst so traurige und verschüchterte Fondère schien nämlich seit einigen Abenden von einer großen inneren Freude erfüllt zu sein. Jedes Mal, wenn er einen Trumpf ausspielte, begannen seine Augen hinter seiner Brille zu funkeln. Er machte noch mehr Fehler als sonst, und seine Mitspieler wiesen ihn verärgert darauf hin. Sie machten ihm ungeniert Vorhaltungen; der Anblick ausgeprägter Heiterkeit ruft bei den Mitmenschen stets Unmut hervor.
    Die Tage vergingen. Der Lehrer ersetzte die Walnüsse seines Nussbaums durch Kastanien, die ihm ein übereifriger Schüler mitgebracht hatte und die er im Ofen seiner Küche röstete. Es gab die gleiche Anzahl wie zuvor an Nüssen: nie mehr als acht pro Person.
    Mehrmals herrschte Sturm am Abend. Pencenat hatte nicht vergessen, dass er die beiden ersten Briefe jeweils am Vormittag nach einer stürmischen Nacht gefunden hatte. Und zwischen jedem Fund waren etwa vierzehn Tage vergangen. Genau so viel Zeit, wie zwischen den beiden Morden lag.
    Pencenats Gehirn ging nach drei bis vier sehr einfachen Regeln vor: »Wenn dieser freiwillige Zusteller konsequent ist«, sagte er sich, »wird es nicht lange dauern bis er den nächsten Brief in den Briefkastenschlitz steckt und damit logischerweise auch den nächsten Mord begeht. Es sei denn, er gäbe sich mit den beiden ersten zufrieden …«
    Doch Pencenat glaubte nicht an diese Möglichkeit. »Die Katze lässt das Mausen nicht«, dachte er. »Es gab ja auch keinerlei plausibles Motiv. So stand es in der Zeitung. Es muss sich also um einen Verrückten handeln. Und wenn es ein Irrer ist, wird er wieder zuschlagen.« Aber etwas beunruhigte ihn.
    »Gut, aber … wenn er wirklich verrückt ist, wird er dann überhaupt begreifen, dass er sich mein Schweigen erkaufen muss? Egal! Die Sache ist einen Versuch wert!«
    An den Abenden, an denen sie nicht beim Lehrer Karten spielten, hatte er freie Bahn, denn seit es kälter geworden war, trafen sich Prudence und Rose noch häufiger. So konnte Pencenat, wenn er aus seinem eisigen Kabuff kam, wo es nach Äpfeln roch, in aller Ruhe am ehelichen Schlafzimmer vorbeigehen, denn es stand oft leer. Und wenn Prudence sich dort aufhielt, schlief sie den Schlaf der Gerechten, der sich nach einigen schlaflosen Nächten ganz von selbst einstellte.
    Mehrmals kam er in der Frühe unverrichteter Dinge zurück, wie zerschlagen, mit eiskalten Füßen und einem bitteren Geschmack im Mund. Dann unterbrach er sogar die Arbeit an seinem Grab für einen erholsamen Mittagsschlaf.
    Und dann kam jener Abend, der für die übrigen Einwohner von Barles nur einer unter vielen bleiben sollte. Pencenat verließ das Haus durch das hintere

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