Der Moloch: Roman (German Edition)
Morgen etwas Ausgang.
Sie hatte den Schleier behalten, nachdem sie aus den Hallen entkommen waren, denn es war ihr einziger Besitz abgesehen von der zerlumpten Kleidung, die ihr diese Kriegerin gegeben hatte. Wenn sie Angst hatte, und das hatte sie oft in diesen ersten Tagen am Tageslicht, umklammerte sie den schmutzigen Tuchfetzen mit den Fäusten. Sie blickte auf das Pferd und den Hund und tat, als lebten sie alle an einem sicheren Ort und als wären diese beiden Tiere ihre besten Freunde. Es dauerte eine Weile, bevor Bartellus ein erstes Heim für sie fand, und noch erheblich länger, bis sie sich allmählich dort sicher fühlte. Dann wusch sie den Schleier immer und immer wieder, spülte die letzten Überbleibsel der Kanalisation aus und legte ihn in die reinigende Sonne, damit er dort trocknete. Wenn sie ihn ausbreitete, sah sie, dass er sehr raffiniert aus einem glänzendem Garn gewebt war, das zwar sehr fein aber doch recht kräftig war. Es dauerte lange, bis sie das Muster in dem Gewebe bemerkte. Wahrscheinlich war es deutlicher gewesen, vermutete sie, als der Schleier noch seine Farbe hatte. In der Stickerei waren Tiere verborgen, die einander in einem Kreis folgten. Nachdem sie eines erkannt hatte, konnte sie die anderen viel leichter wahrnehmen. Es gab einen Hund und ein Pferd, eine seltsame missgestaltete Kreatur, die man einen geflügelten Drachen nannte, wie sie herausfand, ein Seepferd, ein Kaninchen und einen Delfin. Und in der Mitte war ein Gulon. Sein buschiger Schweif ringelte sich um den Umriss eines Herzens. Entzückt hatte sie die Tiere ihrem Vater gezeigt, aber seine Augen waren zu schwach, um sie in der komplexen Stickerei zu erkennen, und es interessierte ihn auch nicht sonderlich.
Sie kamen nur sehr langsam voran und hatten einen weiten Weg in der rumpelnden Kutsche. Sie fuhren die ganze Blauenten-Allee entlang bis zur Adamantine-Mauer. Der folgten sie, vorbei an den einfachen Hütten und Häusern der Kaufleute, passierten die Kaserne der Maritimen Armee, die jetzt verlassen dalag, ein finsterer Ort unter der Sommersonne. Sie überquerten die Grenze von Burman Fehrn, wie Bartellus ihr erklärte, mit seinen Tempeln und Badehäusern, und fuhren weiter nach Otaro. Sie waren fast einen halben Tag unterwegs, bis sie endlich die Avenue des Sieges erreichten.
» Sieh nur«, sagte Bartellus und stieß Emly an. » Von hier aus kannst du den Roten Palast erkennen.«
Emly schlug ihren Schleier zurück und spähte in die Richtung, in die er zeigte. In der Ferne sah sie Türme in der Sonne schimmern.
» Grün?« Sie runzelte die Stirn.
» Einige der Türme sind mit Gold gedeckt, behauptet man, aber wahrscheinlicher ist Kupfer. Der alte Teil des Palastes jedoch wurde vor vielen Hundert Jahren aus rosafarbenem Marmor errichtet, der aus den westlichen Kontinenten importiert wurde.«
Emly lächelte höflich, aber sie wollte nur etwas über Kreaturen erfahren, die lebten, liefen, schwammen und flogen. Alte Gebäude interessierten sie nicht.
Die Kutsche und die Karren bogen scharf von der Avenue in eine schmale Straße ein, die von hohen Gebäuden gesäumt wurde. Hier, wo die Sonne nicht hinkam, war es kühler. Die Wände waren sehr hoch und wirkten feucht, und grünes Moos kroch an ihnen hinauf und klammerte sich an die feuchten Ziegel.
» Wir sind fast da«, sagte Bartellus leise. Emlys Bauch krampfte sich vor Angst zusammen.
Sie hielten vor einem großen Haus, das frei auf einer Seite eines ruhigen Platzes stand. Es war ein sechseckiger Platz, der mit warmen, goldfarbenen Steinen gepflastert war und in dessen Mitte ein Springbrunnen stand. Emly betrachtete das Haus, das aus demselben warmen Stein errichtet und mit Statuen geschmückt war. Es hatte viele Fenster, und über jedem war ein Tier eingemeißelt, ein Säugetier, ein Vogel oder ein Fisch. Über dem Haupteingang prangten zwei Delfine, die Seite an Seite aus dem Wasser sprangen. Emly lächelte, und ihr Bauch entspannte sich ein bisschen. Vielleicht hatte dieser Kaufmann ihr Meeresfenster ja in Auftrag gegeben, weil er die Kreaturen des Meeres liebte.
Als die Kutsche anhielt, wurde die Eingangstür geöffnet, und ein Schwarm Diener stürmte heraus. Zwei stellten hölzerne Tritte an die Kutsche, damit Emly und Bartellus bequem aussteigen konnten. Dieselben beiden Bediensteten begleiteten sie die drei breiten, flachen Stufen zur Tür und hielten sich neben ihnen, als wollten sie sie auffangen, falls sie plötzlich stürzten. Auf der Veranda
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