Der Moloch: Roman (German Edition)
ihre Berghöhlen und warteten, bis die Nachschublinien der Cité bis zum Zerreißen gespannt waren. Dann griffen sie an. In den ersten beiden Tagen fielen Tausende von Soldaten der Cité. Man befahl den Generälen, sich zurückzuziehen. Denen am Ende des langen Zuges gelang es auch. Shuskara jedoch stand vor der grauenvollen Alternative, seine Streitkräfte zurückzubeordern und in Sicherheit zu bringen oder aber die Stellung zu halten und zu versuchen, den umstellten Streitkräften an der Front zu Hilfe zu kommen. Seine Soldaten gruben sich ein.
Diese Zweite Schlacht von Edyw, das hatte er schon fast vergessen, wusste es nun aber wieder, markierte das einzige Mal in der Geschichte der Armeen der Cité, dass sich Veteranen auf beiden Seiten dieselben Tätowierungen stechen ließen. Es war ein grimmiger Tribut an die andere Seite, eine Art von widerwilliger Anerkennung. Denn in einer Schlacht, in der zwei Armeen sich in einer Pattsituation bekämpften und dabei neunzig Prozent ihrer Soldaten verloren, verband die einfachen Soldaten beider Armeen mehr, als sie trennte.
Also hatte sein toter tätowierter Freund sowohl für die Cité gekämpft, und zwar in Infanterieregimentern, als auch gegen sie, nämlich in der Leibgarde des odrysianischen Königs. Und er hatte in Edyw gefochten, aber auf welcher Seite? Dieses Buch hatte ebenso viele Fragen aufgeworfen, wie es beantwortet hatte.
Wie immer drängten sich dann die Gedanken an den Schleier in seinen Kopf, den er dem Toten vom Hals gezogen hatte. Es war der Schleier, den Emly aus irgendwelchen Gründen so liebte und den sie erst am vorigen Tag getragen hatte. Es war eine wunderbare Nadelarbeit. Stammte er ebenfalls aus Odrysia? Er beschloss, ihn sich anzusehen, sobald er nach Hause kam. Bartellus machte sich Sorgen wegen Emly. Er hatte gehofft, dass ihr Ausflug vom Tag zuvor sie stolz machen und sie mit hoch erhobenem Kopf gehen lassen würde. Stattdessen jedoch war sie bekümmert und aufgelöst gewesen, als sie vom Haus des Kaufmanns nach Hause gekommen waren. Der Tag hatte sie weit mehr angestrengt, als er erwartet hatte.
Er war mit diesem Gedanken beschäftigt, als ihn plötzlich das Gefühl beschlich, beobachtet zu werden. Er sah sich um. Am anderen Ende der Bibliothek lehnte ein Mann an einem Pult. Er schien nicht zu Bartellus hinzusehen, aber der alte Soldat spürte in seinen Knochen, dass der Mann ihn noch vor wenigen Momenten beobachtet hatte. In dem grünlichen Licht konnte Bartellus den Mann nicht gut erkennen und sah nur, dass er groß und schlank war und helles Haar hatte. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit handelte es sich um einen Soldaten.
Bartellus rieb sich die Augen, und als er wieder hinsah, war der Mann verschwunden.
Er schloss das Buch und schob es zuunterst unter den Dokumentenstapel. Dann schnappte er sich seinen Mantel und versuchte, den Schritten des Fremden zu folgen. Als er die Stelle erreicht hatte, wo der Mann gestanden hatte, sah er sich um. Vor ihm lag der breite Gang, der zum Haupteingang der Bibliothek führte. Auf beiden Seiten gingen kleinere Türen ab, die zu Räumen führten, die Bartellus nicht kannte. Er zuckte mit den Schultern und ging den Gang hinunter. Als er das hohe, dunkle Atrium erreichte, das mit schmutzigen bunten Glasfenstern ausgestattet war, hielt er erneut inne. Es war niemand zu sehen. Aber das schwere Hauptportal schloss sich gerade und fiel mit einem leisen Klacken in das eiserne Schloss.
Bartellus ging hinaus und wurde belohnt; seine Beute verschwand gerade in einer Seitenstraße auf der anderen Seite des Platzes. Bartellus beeilte sich und lief fast über den belebten Platz, um den Mann nicht aus den Augen zu verlieren.
In den schattigen Seitenstraßen war es einfacher, ihm zu folgen, denn seine Beute verschwendete offenbar keinen Gedanken daran, dass sie verfolgt werden könnte. Der Mann blieb am Stand eines Straßenverkäufers stehen und kaufte sich etwas zu essen. Bartellus näherte sich ihm sehr vorsichtig und trat rasch hinter eine Mauer, als sich der Mann beiläufig umsah. Er kaute prüfend auf einer Frucht. Durch ein Loch in der Mauer konnte Bartellus ihn eindeutig erkennen. Er war groß und sehnig, hatte rotblondes Haar und war älter, als er auf den ersten Blick gewirkt hatte. Der Mann kaufte eine Handvoll Früchte und ging dann zügig weiter.
Schon bald wurde klar, dass er nach Lindo wollte. Er nahm die Strecke, die Bartellus selbst fast jeden Tag ging. Durch den Norden von Burman
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