Der Moloch: Roman (German Edition)
ihrer Kleidung gedrungen, tropfte von ihrem Haar in ihren Kragen und rann in ihre Stiefel. Sie hatte nackte Füße in dem Pelz, weil sie es liebte, das weiche Kaninchenfell zwischen den Zehen zu fühlen. Aber sie stand seit mehr als einer Stunde auf dem Berg, und das Fell fühlte sich allmählich klamm auf ihrer Haut an.
Sie vertrieb jedoch alle Gedanken an Unbehagen aus ihrem Kopf und schloss die Augen. Sie spürte bereits das zunehmende Licht der Sonne auf ihrem Gesicht, und schon bald würde sie auch ihre Wärme fühlen. Dies hier war der fünfte Morgen in einer ganzen Reihe von Morgen, an denen sie den langen Marsch im Halbdunkel bis zur Spitze des Berges gemacht hatte. Sie wollte den Sonnenaufgang sehen. Aber nur Regenschauer und dichte Bewölkung waren die ersten vier Mal ihre Belohnung gewesen. Maron hatte jedoch prophezeit, dass sie heute Glück haben konnte, und wie es aussah, hatte er Recht. Indaro reckte sich, hob ihr Gesicht und wartete auf die Berührung der Sonnenstrahlen. Die Bewegung ließ ein kleines Rinnsal Regenwasser ihren Rücken hinunterlaufen, und sie erschauerte. Erneut konzentrierte sie sich und wartete auf die Sonne.
Sie wartete und wartete, bis schließlich die Ungeduld ihre einstudierte Ruhe vertrieb und sie die Augen öffnete. Wie aus dem Nichts war eine Nebelbank im Osten aufgezogen. Vor ihr war das Tor der Sonne, der tiefe Spalt zwischen den Bergen, wo die Morgensonne auftauchen sollte, vollkommen unter einer Decke aus kalten, dunklen Wolken verschwunden. Es würde auch heute keinen Sonnenaufgang geben. Schon wieder nicht.
Die beiden Mädchen hinter Indaro kicherten. Sie drehte sich herum und betrachtete sie finster.
» Ich habe keine Ahnung, was ihr daran so komisch findet«, sagte sie mürrisch. » Denn das bedeutet, dass ihr morgen wieder mit mir hier hochklettern müsst.«
Jetzt lachten die beiden laut auf, als hätten sie erraten, was sie sagte. Sie sprangen auf und bedeuteten ihr, ihnen zu folgen. Sie gingen den Berg wieder hinab, zuversichtlich und mit sicheren Schritten in ihren Lederstiefeln, trotz des spärlichen Lichts. Indaro folgte ihnen langsamer und achtete darauf, wohin sie trat. Sie wusste, dass sie auf sie warten mussten, bis sie sie eingeholt hatte. Immerhin waren sie angeblich ihre Wächterinnen.
Dieser Morgen markierte das Ende des hundertsten Tages ihrer Gefangenschaft.
Zuerst hatte sie versucht zu flüchten. In ihrer kleinen weißen Zelle befand sich hoch über ihren Kopf ein Fenster. Es war offen und hatte keine Gitter. Sie verbrachte zahllose Stunden damit, sich zu überlegen, wie sie es erreichen könnte, und verschwendete all ihre Energie bei dem Versuch. Es gab keine Möbel in ihrer Zelle, nur eine saubere Matratze, auf der sie schlafen konnte, und einen Eimer. Sosehr sie es auch versuchte, sie fand einfach keine Möglichkeit, aus einer weichen Matratze und einem Nachteimer etwas zu fabrizieren, was ihr die Flucht ermöglicht hätte. Frustriert war sie immer wieder hochgesprungen, gegen die Mauer, um das hohe Fensterbrett zu erreichen. Zweimal war sie dabei ohnmächtig geworden, und aus Mitleid oder auch vielleicht aus Gereiztheit hatten ihre Häscher sie schließlich in eine Zelle verlegt, die kein Fenster hatte.
Die ersten Tage im Gefängnis auf dem Alten Berg hatte sie damit zugebracht, die Schrecken der Folter und eines langsamen Todes zu fürchten. Als diese Ängste sich allmählich aufgelöst hatten, waren sie von Sorge um Doon und Fell und die anderen ersetzt worden. Es dauerte jedoch mehr als einen Monat, bis sie endlich nach ihren Freunden fragen konnte. Denn keiner ihrer Häscher sprach ihre Sprache. Die beiden Frauen waren klein und kräftig, hatten dunkle Haut und dunkle Augen und trugen die gleichen wollenen Blusen und Röcke. Sie lächelten sie an, wenn sie ihr etwas zu essen brachten und den Eimer leerten. Nach einer Weile begann Indaro, mit ihnen zu reden, erzählte ihnen von ihrem Vater und dem Haus auf dem Salient, von ihrem Bruder Rubin und ihrer Freundschaft mit Doon. Sie sprach jedoch nicht vom Krieg und den Schlachten, die sie überstanden hatte. Die beiden hörten ihr höflich zu, und Indaro beobachtete ihre Augen, während sie sprach. Manchmal sagte sie etwas, das sie erschrecken oder überraschen musste, aber ihre Gesichter blieben stets höflich und ausdruckslos. Schließlich glaubte sie wirklich, dass die beiden sie nicht verstanden.
Am ersten kalten Morgen im Herbst hatte sie eine schlaflose Nacht verbracht. Sie hatte
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