Der Moloch: Roman (German Edition)
ein kleiner, dünner und bartloser Mann, ein sehr genauer Mann, der eher wie ein Buchhalter wirkte denn wie ein Veteran mit dreißig Jahren Kampferfahrung. Dol kannte ihn schon ebenso lange. Er verfügte über seltene Eigenschaften bei einem alten Soldaten, da er zuhörte und beobachtete und nur etwas sagte, wenn er sich seiner Sache sicher war. Dabei war er schnell von Begriff, und Dol schätzte ihn von all seinen Mitarbeitern am höchsten.
Sully setzte sich auf seinen gewohnten Stuhl. Er rieb sich die Hände, um die Kälte zu vertreiben, und trank einen Schluck von dem Gerstenschleim, den Dol zubereitet hatte. » Man sagt«, begann er ohne Einleitung, » der Kaiser hätte vor, die Eintausend mit Stumpf und Stiel auszulöschen; angeblich kann sich keine der Zenturien mehr sicher fühlen, außer vielleicht die neue, die Nachtfalken.«
» Wer sagt das?«
Sully zuckte mit den Schultern, wie immer, wenn seine Quellen nur Gerüchte und Spekulationen von sich gegeben hatten, Tratsch und Schenkengeschichten von Soldaten.
» Aber was glaubst du, mein Freund?«
Der kleine Mann schwieg eine Weile. » Trotz der Ereignisse der letzten Tage«, antwortete er schließlich, » verlassen sich der Kaiser und auch Marcellus auf die Loyalität ihrer Leibwache. Die Geschichte hat gezeigt, dass sie recht daran tun. Die Krieger der Eintausend werden großzügig entlohnt. Sie besitzen Prestige, Ruhm und Reichtum. Nach einer solchen Verschwörung muss man natürlich nach den Personen suchen, die von Marcellus’ Tod profitieren würden. Das ist jedoch auf keinen Fall die Leibwache.«
» Wer würde aber dann davon profitieren? In wessen Interesse haben Mallet und seine Männer gehandelt, wenn nicht in ihrem eigenen?«
Und wer würde Marcellus’ Platz einnehmen, wenn beide Vinceri tot waren? Wer wusste, was der Kaiser dann tun würde? Dieses Thema hatten die beiden Männer im Laufe der Jahre häufig diskutiert. Und sie kamen immer zu diesem entscheidenden Punkt. Wer konnte schon wissen, was ein Mann tun würde, der sich vollkommen von der Welt abschottete, der nur mit Boaz und den Vinceri sprach, mit einigen Dienern und wenigen Auserwählten seiner Leibwache? Was im Fried des Roten Palastes vorging, war das bestgehütete Geheimnis der Cité.
Dol lehnte sich zurück. » Was weiß man von diesem neuen Kommandeur, diesem Nachtfalken?«
» Sein Name ist Riis. Sein Bruder und er waren Geiseln des Palastes, zwei der letzten Geiseln, Söhne irgendeines nördlichen Lords. Ansonsten ist nichts Nachteiliges über ihn bekannt. Er hat drei Jahre in der Schlacht um den Wolkenkamm gekämpft und ist immer noch am Leben. Ein Überlebender.«
» Und der Bruder?«
» Der hatte nicht so viel Glück. Außerdem sagt man Riis nach, dass er einen starken Hang zu Frauen hat.«
» In der Ersten Adamantine gibt es keine Frauen. Sie wollen sie nicht in ihren Kompanien.«
» Alte Werte«, erklärte Sully anerkennend. Dann setzte er hinzu: » Er ist ziemlich unbeliebt.«
» Das bleibt nicht aus«, erwiderte Dol. » Behalte ihn im Auge. Jeder Neue ist eine potentiell interessante Person. Im Augenblick …«, er suchte nach den richtigen Worten, » herrscht eine unheilschwangere Atmosphäre im Palast, das Gefühl einer drohenden Gefahr.«
» Niemand scheint zu wissen, warum Mallet so gehandelt hat, wie er es tat«, erklärte Sully. » Es war eher untypisch für ihn. Er hat den Vinceri über zwanzig Jahre lang gedient. Die Eintausend haben immer loyal zu ihnen gestanden und jetzt auf einmal nicht mehr. Vielleicht erklärt das ja dieses Gefühl des Unbehagens.«
Er schlürfte eine Weile seinen Gerstenschleim und beobachtete Dol über den Rand seiner Schale hinweg. Er hatte noch etwas zu sagen. Dol zog fragend die Augenbrauen hoch.
» Ich habe auch noch ein paar gute Nachrichten für dich«, sagte Sully zu ihm.
» Ach?«
» Du hattest Recht, das Mädchen konnte der Versuchung nicht widerstehen, seine eigenen Arbeiten zu betrachten. Die junge Frau wurde im Alten Observatorium in Gervain gesehen, wo sie ihr Fenster bewunderte. Man folgte ihr nach Hause bis zu ihrem Schlupfloch. Bartellus war nicht dort, also wollen sie ihn heute Morgen verhaften.«
Dol rieb sich die Hände. » Ausgezeichnet.« Dann bemerkte er das Funkeln in Sullys dunklen Augen. » Gibt es noch etwas?«, erkundigte er sich.
Der kleine Mann nickte. » Ich habe mich versteckt und gewartet, bis er spät in der Nacht zurückkehrte. Um mich zu vergewissern, dass er auch da sein wird, wenn die
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