Der Monat vor dem Mord
anzuklopfen. »Der Chef ist da. Ich habe die Aufnahmen der Zellschnitte vergrößern lassen.« Er sah aus wie jemand am Rande totaler nervlicher und körperlicher Erschöpfung.
»Kennen Sie das Mittel schon?«, fragte der Praktikant.
»Natürlich nicht«, sagte Ocker grinsend, »aber ich war dabei, als er es machte.« Dabei deutete er auf Horstmann.
»Ocker und ich arbeiten immer zusammen«, sagte Horstmann lapidar. »Nun machen Sie bitte Folgendes: Sie nehmen einen lebenden Wurm, bringen ihn auf den Objektträger und besprühen ihn mit dem Zeugs. Dabei machen Sie ständig Fotografien. Und zwar so lange, bis die Zelle vollkommen verschwunden ist. Klar?«
»Klar«, sagte Bachmann.
»Und halten Sie die Schnauze, bis wir wiederkommen«, sagte Ocker. Es klang drohend.
Bachmann war verwirrt und wusste nichts darauf zu erwidern.
Ocker tat es sofort leid, dass er den Jungen grundlos angefahren hatte. Er murmelte: »Tut mir leid, ich bin müde. Aber Sie wissen, wie das ist: Wenn wir nicht die Schnauze halten, weiß die Konkurrenz in einer halben Stunde Bescheid.«
»So ist das?«, sagte Bachmann erstaunt. Darauf wäre er nie gekommen.
Gerade als Horstmann mit Ocker sein Labor verlassen wollte, klingelte das Telefon. Es war Horstmanns Frau. Er empfand diese Anrufe als ausgesprochen lästig und hatte ihr deswegen schon häufig Vorwürfe gemacht. Das änderte aber nichts daran, dass sie immer anrief, wenn er eine Nacht über Versuchen gesessen hatte. Irgendetwas Unwägbares, das er absolut nicht verstand, schien sie dazu zu zwingen, ein wenig belegt und ängstlich zu sagen: »Ich habe mir Sorgen gemacht um dich. Schließlich kann immer einmal irgendetwas passieren.«
»Du lieber Gott«, sagte er wütend, »du weißt doch ganz genau, dass ich mich mit diesem Wurmzeugs abgeben musste. Wenn ich mit dem Auto verunglücke, ruft man dich an. Was ist los?«
»Nichts. Ich wollte nur wissen, ob alles in Ordnung ist.«
»Es ist alles in Ordnung. Ich komme wie üblich nach Hause.« Er legte auf.
»Hat sie gedacht, wir sind versumpft, was?«, fragte Ocker.
»Ich weiß nicht, was Frauen denken«, sagte Horstmann. »Ich finde es zu mühselig, das herauszufinden. Lass uns gehen!« Auf dem kahlen Korridor präparierte er Ocker noch einmal: »Zeig also keine Spur von Respekt. Sei einfach müde und kaputt. Und tu manchmal so, als ob du dem Alten gar nicht zuhörst. Ist das klar?«
»Sicher. Für wie dumm hältst du mich?«
Horstmann war ein wenig aufgeregt, als sie in das Vorzimmer traten. Er hatte sich zwar eine Marschroute zurechtgelegt, aber immerhin bestand die Möglichkeit, dass es nicht die richtige war. Er wollte hunderttausend Mark, und der Chef war Kaufmann, nicht irgendein weltfremder Chemiker.
»Haben Sie die Flasche mit dem Anisschnaps aus dem Eisschrank geholt?«, fragte das etwas naive, ältliche Mädchen, das als Chefsekretärin fungierte.
»Ich habe das getan«, sagte Ocker nebenbei, als handele es sich um eine Selbstverständlichkeit. »Wir haben die ganze Nacht gearbeitet.«
»Und was soll ich dem Chef sagen?«
»Zählt er neuerdings seine Schnapsflaschen?«, fragte Horstmann ohne eine Spur von Arroganz. »Dann werde ich selbstverständlich die Flasche ersetzen.«
»Es ist nicht so«, sagte sie unsicher. »Nur ...«
»Schon gut, Kindchen«, sagte Horstmann abwesend, »ich kann Sie ja verstehen.«
Das Mädchen, das ebenso wie der Chef der Meinung war, Horstmann sei den materialistischen Dingen dieser Welt vollkommen fern, sagte: »Das mach’ ich schon, Doktor. Wollen Sie etwas Bestimmtes?«
»Zum Chef«, sagte Horstmann. »Sagen Sie ihm, Ocker und ich hätten eine Lösungsmöglichkeit.«
Das Mädchen drückte auf einen Knopf und wiederholte, was Horstmann gesagt hatte.
»Herein mit der Meute«, sagte der Chef. Seine Stimme im Lautsprecher kam metallisch, aber die Leutseligkeit darin war nicht einmal durch die Technik zu verbergen.
Sie betraten das Zimmer wie ein geschlagenes Heer, machten in beinahe läppisch wirkender Formation vier Schrittevorwärts, dann glitt Horstmann beiseite und ließ sich in einen Sessel fallen. Er bemerkte aus dem Augenwinkeln, dass Ocker genau dasselbe tat. Und dann tat er so, als ob er erschrak. »Oh Verzeihung!« Er machte einen Versuch, wieder aufzustehen, obwohl er nicht die geringste Absicht hatte, es tatsächlich zu tun.
Ocker reagierte wie erwartet: Er stand auf, er stand stramm. »Es tut mir leid«, sagte er.
»Was soll das?«, fragte der Chef. »Ihr seht aus, als
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