Der Monat vor dem Mord
ihn. Wie er so auf dieMusik hörte und auf die Tanzenden sah, wirkte er vollkommen gelöst. So wie einer, der weit gereist ist und sich jetzt in der Sonne ausruht. Er sah im Profil sehr männlich aus, aber nicht ungewöhnlich. Es waren nur seine Augen, die sie denken ließen, dass er klüger war als die Männer, mit denen sie bis jetzt zu tun gehabt hatte. Aber vielleicht war das alles Einbildung. Es war ihr nicht recht, dass sie sich so mit ihm beschäftigte. Trotzdem hatte sie den Eindruck, als würde er bald explodieren.
Horstmann erinnerte sich rechtzeitig daran, dass er zu Hause anrufen wollte, und also fragte er Karin, ob er mal telefonieren könne.
»Da drüben ist eine schalldichte Zelle«, sagte sie.
»Ich brauche mich nicht zu verstecken«, sagte Horstmann. Er versuchte zu lächeln, aber es misslang wieder, weil er sie ansah und ihn dabei wieder ein beklemmendes Gefühl beschlich. Sie war einfach sinnlich.
Sie stellte ein Telefon vor ihn hin, und er wählte die Nummer. Lange Zeit nahm niemand ab, schließlich war Sabine am Telefon und fragte verschlafen: »Ja, bitte?«
»Ich bin es«, sagte Horstmann, »Papa! Hör mal, Kleines: Sage Mama, ich käme erst morgen früh zurück. Ich habe viel zu tun.«
»Aber du bist doch nicht im Werk«, sagte Sabine. »Ich höre doch Musik.«
»Ich bin jetzt in einem Lokal«, sagte Horstmann, »ich esse etwas.«
»Ach so«, sagte Sabine. »Ich richte es aus. Ich schreibe es ihr auf einen Zettel, dann brauche ich sie nicht zu stören. Papa?«
»Ja, was ist?«
»Harald ist weg.«
»Wohin?«
»Weg!«
»Was heißt weg?«, fragte er ungeduldig. »Er wird bei einem Freund sein oder mit einer Freundin schlafen, oder was weiß ich.«
»Nein«, sagte sie ruhig. »Ich habe ihm helfen müssen, seine Sachen zu packen. Und Mama stand daneben und hat nur geheult, weil er auf nichts geantwortet hat. Sie liegt jetzt im Bett und heult immer noch. Es war so: Kaum warst du weg, hat er den Scheck genommen über zweitausendachthundert Mark, mit dem er seine Haschzigaretten bezahlen sollte. Er ist damit in die Kneipe gegangen, in der er immer herumhängt, und hat den Scheck mit einem Verlust von zweihundert Mark eingelöst. Ich musste ihm helfen, die Sachen zu packen. Er sagte nur noch: ›Der Alte hat zu spät angefangen, mit mir zu sprechen. Sag ihm, dass ich ihn bescheißen muss, um endlich loszukommen von diesem sterilen Stall hier. Sag ihm, ich schreibe gelegentlich. Aber erst bleibe ich mal für ein paar Jahre weg.‹ Das soll ich dir sagen von dem Schwein.« Sie weinte ein bisschen.
»Er ist kein Schwein«, sagte Horstmann, »Geh hin und beruhige Mama und sag ihr, ich hätte von Haralds Plänen gewusst. Und sag ihr, ich wüsste auch, wo er steckt.«
»Aber das ist doch nicht wahr.«
»Natürlich ist es nicht wahr. Aber Mama wird dann schlafen können und bekommt keinen Herzanfall.«
»Das ist richtig«, sagte Sabine. »Aber Mama hat sich sowieso schon aufgeregt. Da hat dieser Binder angerufen, dieser Büromensch von euch.«
»Ja, und?« Binder! Er hatte Binder vergessen. »Was wollte er?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Sabine. »Mama hat mit ihm gesprochen. Sie ist danach aufgeregt ins Schlafzimmer gegangenund hat immerzu gesagt: ›Das darf doch gar nicht wahr sein.‹ Sie hat mit mir nicht darüber gesprochen.«
»Es wird eine Belanglosigkeit sein«, sagte Horstmann. Aber er fühlte, dass es mehr war als das. »Schlaf weiter. Gute Nacht!« Er legte den Hörer auf, trank den Wodka aus und sagte: »Ich möchte noch so einen.«
»Jetzt sind Sie traurig«, sagte Karin.
»Nein«, sagte Horstmann, »jetzt bin ich nicht traurig.« Und er sagte ihr nichts von Harald und nichts von Binder. Gegen zwei Uhr kam Ocker vorbei und sagte betrunken: »Ich fahre ein bisschen weg.«
»Gut«, sagte Horstmann, »tu das.«
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich mit Karin nur über belanglose Dinge unterhalten, aber es war geschehen, dass sie sich plötzlich an den Händen hielten und dass sie beide sagten: »Wir sind verrückt!«
»Ich kann dir nicht in die Augen sehen, ohne verrückt zu werden.«
»Du bist ein seltsamer Mann.«
»Ich komme hier herein. Ich sehe dich und weiß, dass ich dich will.«
»Du kommst herein, willst einen Wodka, und ich starr’ dich an. Ich bin verrückt!«
Als Ocker gegangen war, sagte sie: »Ich möchte mit dir allein irgendetwas trinken und reden. In meiner Wohnung. Die ist hier im Haus.«
»Ja«, sagte Horstmann. Er dachte, dass es mit Karin genauso
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