Der Monat vor dem Mord
war wie mit den hunderttausend Mark. Er war nicht nur ein guter Chemiker, er hatte auch plötzlich gelernt, Menschen zu fangen. O ja, er war ein großer Menschenfischer. Er sagte: »Aber kannst du denn die Bar hier allein lassen?«
»Warum nicht?«, sagte sie. »Ich stehe hier ohnehin nur, weil ich Langeweile habe.« Sie sprach am Telefon mit jemand, den sie Mäxchen nannte und den sie bat, er möge heraufkommen und ihr die Bar abnehmen.
Horstmann fragte sich, warum sein Sohn eine solche Schweinerei gemacht hatte. Und er stellte die Frage mit einem tiefen Seufzer, der nichts war als ein Schlussstrich. Die Sache mit Binder überlegte er nicht.
Die Frau, die Karin hieß und der dieses so heitere Lokal gehörte, ging voran.
Es war ein sehr schmaler Flur, und er sah trostlos aus. Horstmann dachte ganz mechanisch, dass es in jeder Wohnung und in jedem Haus so einen Winkel gab, in den jeder alles Nutzlose hineinstellte. Es waren die toten Winkel unserer Behausungen. Und er dachte plötzlich, dass dies eine ungewöhnliche und höchst erfreuliche Sache in seinem Leben war. Es war nicht Liebe. Es war einfach verrückt. Sie wollten sich sehen, sich spüren, und sie wollten zusammen schlafen. Das war alles. Es war wirklich alles. Vollkommen unkompliziert.
»Erwarte nicht zu viel von mir«, sagte sie. »Ich bin keine Jüngerin des perfekten Orgasmus oder so.«
»Es reicht, wenn ich dich spüre«, sagte er. »Du musst da sein. Es ist alles so neu. Das ist das Gute: Es ist alles so neu.«
»Warum bist du so traurig?«, fragte Karin und öffnete eine Tür, an der ein Messingschild festgeschraubt war: »Büro«.
»Es ist mein Sohn«, sagte Horstmann. Er wollte jetzt nicht darüber sprechen. Dies hier war seine Sache, und sein Sohn hatte nichts damit zu tun. Sein Sohn war eine ganz andere Geschichte.
»Immer die Kinder!«, sagte Karin und lächelte.
»Möchtest du irgendetwas trinken?«, fragte sie. »Vielleicht ein Bier oder so etwas«, sagte er. »Ich bin nicht sonderlich an Alkohol interessiert. Stimmt es, dass du Philosophie studiert hast?«
»Ja«, sagte sie, »eines Tages werde ich es weitermachen.« Sie ging durch eine Tür hindurch und verschwand.
Horstmann stand nun allein in dem Zimmer. Er war sehr aufgeregt und sehr unsicher. Es war ganz natürlich, dass er nicht genau registrierte, wie diese Frau das Zimmer eingerichtet hatte. Aber immerhin wirkte alles sehr heiter und irgendwie beruhigend. Er bemerkte erst später, dass Grün ihre Lieblingsfarbe sein musste. Ein dunkles, sanftes Grün.
Er hoffte sehr, dass sie nicht so zurückkehren würde, wie alle Frauen es in Filmen oder Romanen taten: also nackt, oder nur im Bademantel und wild versessen darauf, alles zu bekommen, ihn gleichsam zu verzehren. Er hoffte das, weil er Angst vor seiner Ungeschicklichkeit hatte. Sicher würde er dann vollkommen konfus sein und einen Fehler nach dem anderen machen.
Aber Karin kam nicht nackt zurück. Sie trug immer noch das Kleid, nur die Schuhe hatte sie ausgezogen. »Ich musste kaltes Bier holen«, sagte sie. »Bist du immer noch traurig?« »Nicht sehr«, sagte Horstmann. Es machte ihm jetzt nicht mehr viel aus, dass er unerfahren war. Sie würde es verstehen, und sicherlich würde sie nicht lachen. »Und wenn dein Freund dich hier mit mir erwischt?«
»Ich habe nie einen Freund«, sagte sie. »Es ist nicht gut, einen Freund zu haben, wenn man Geld machen will. Ich könnte das Geldmachen nicht von der Liebe trennen.«
»Aber du liebst mich nicht.«
»Natürlich nicht«, sagte sie heiter. »Auf jeden Fall machst du mich irgendwie neugierig. Ich will dich.« »Das kann einStrohfeuer sein«, sagte er schnell und empfand wieder Unsicherheit.
»Ist es bei dir mehr?«
»Ja«, sagte er. Was ein Mann zu tun hatte, musste er tun. Es hatte wenig Sinn, sich dagegen zu wehren. Natürlich konnte es ein Strohfeuer sein, aber das Gefühl war sehr tief und fast beängstigend. So glaubte er nicht an ein Strohfeuer.
»Denkst du nicht an deine Frau?«
Er dachte an Maria und sagte langsam: »Ich denke manchmal an sie. Aber es nützt mir wenig. Es macht mich weder moralisch noch verantwortungsvoll. Ich bin zwanzig Jahre mit ihr verheiratet.«
»Und deine Kinder?«
Horstmann überlegte einen Augenblick. Er sagte: »Es ist sehr viel passiert in den letzten Wochen. Zuerst hat mir meine Tochter – die ist siebzehn – gesagt, dass sie manchmal mit Jungen schläft. Dann habe ich meinen Sohn erwischt, wie er Haschisch rauchte. Ich habe ihm
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