Der Monat vor dem Mord
Schlager dieser Nacht vor sich hin, und Ocker in seinem schweinischen Eifer bemerkte es nicht einmal.
Ich habe keine Lust, nach Hause zu gehen, dachte Horstmann. Er malte sich aus, wie es sein würde. Sein Sohn war verschwunden, seine Frau würde weinen, vielleicht würde sie einen Herzanfall bekommen, wenn sie nicht schon längst einen bekommen hatte. Seine Tochter würde in der für sie typischen Mischung aus Gleichgültigkeit und Melancholie durch das Haus schlurfen. Nein, es war nicht gut, nach Hause zu fahren. Es wäre besser gewesen, einfach bei Karin zu bleiben.
»Ich setze dich zu Hause ab«, sagte er. »Ich fahre in den Betrieb und arbeite etwas.«
»So was Verrücktes«, sagte Ocker. »Was willst du arbeiten?«
»An den Schädlingen aus Kanada«, sagte Horstmann, und er wollte es wirklich. Aber er wollte auch nicht allein durch die Labors gehen. Deshalb hatte er die Schädlinge erwähnt, denn Ocker würde dann bestimmt mitgehen.
Tatsächlich sagte Ocker: »Es ist unfair, etwas in dieser Richtung ohne mich zu unternehmen. Heute ist Sonntag.«
Sie riefen von einer Telefonzelle die Frauen an und sagten, sie schliefen ein paar Stunden im Ruheraum der Fabrik. Sie sagten, sie hätten die Arbeit noch nicht ganz abgeschlossen.
Um neun Uhr lagen sie auf zwei sehr steril und klinisch wirkenden Betten im Ruheraum und starrten gegen die Decke. Ocker schlief sofort ein, und Horstmann dachte noch ein wenig an ganz bestimmte Augenblicke mit Karin, ehe auch er den kleinen Tod der Erschöpfung akzeptierte. Er träumte nicht. Es war ein kurzer Schlaf, aber Horstmann stand danach nicht auf, er öffnete nicht einmal die Augen. Er wollte diesen Raum nicht sehen, den man den Ruheraum nannte und der so ungemein widerlich wirkte wie der Krankenraum eines Gefängnisses. Und plötzlich fiel ihmBinder ein. Was hatte Binder vor? Wie konnte er ihn vergessen haben? Wusste Binder schon, dass er sich das Geld unter Vorspiegelung falscher Tatsachen geholt hatte? Und wenn er es wusste, was würde er tun? Würde er von Horstmann die Formel erpressen?
Horstmann überdachte das sehr gewissenhaft und kam zu dem Schluss, dass Binder wahrscheinlich versuchen würde, ihn zu erpressen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht.
Ocker erwachte und rüttelte an Horstmanns Schulter. »Kumpel, es ist ein Uhr mittags.« Ocker hatte Horstmann in all den Jahren niemals mit Kumpel angesprochen. Jetzt, nachdem sie beide ein höchst amüsantes, außereheliches Abenteuer erlebt hatten, glaubte er, Kumpel sagen zu dürfen.
»Na und?«, fragte Horstmann aggressiv. »Haben wir ein Verbrechen begangen? Wir haben geschlafen.«
»Ja, ja«, sagte Ocker verwirrt, »aber meine Frau wird sauer sein.«
»Sauer!« sagte Horstmann. »Was macht das schon?«
»Nichts«, sagte Ocker, nachdem er eine Weile nachgedacht hatte.
»Na also«, sagte Horstmann. »Rufen wir also noch einmal an und beruhigen sie.«
»Willst du wirklich arbeiten?«
»Warum nicht? Ich habe keine Lust, nach Hause zu gehen und zu sagen: ›Bonjour tristesse!‹, nur weil sie dort alle ein schiefes Maul ziehen. Ich werde etwas arbeiten.«
»Du hast recht«, sagte Ocker. Horstmann hatte in diesen Dingen meistens recht, und er war auch entschieden resoluter. Sie riefen also an und sagten, sie brauchten noch ein paar Stunden, ohne den Frauen auch nur Gelegenheit zu geben, sich zu beklagen.
»Und jetzt möchte ich etwas versuchen«, sagte Horstmann heiter. »Können wir an die Affen?«
»An welche Affen?«
»Rhesus«, sagte Horstmann. »Oder vielleicht besser zuerst Ratten?«
»Also zwei Ratten und ein Affe«, sagte Ocker. »Muss ich sie sezieren?« Zwei Ratten und ein Affe waren die übliche Anfangsrate.
»Es kann sein«, sagte Horstmann. »Du kannst deinen Tisch fertig machen. Ich brauche Herz- und andere Organschnitte, wenn das stimmt, was ich glaube.«
»Was glaubst du?«
»Ich sage nichts«, sagte Horstmann. »Du wirst es sehen, oder du wirst es nicht sehen.«
Ocker verschwand und pfiff fröhlich vor sich hin. Er hatte zum erstenmal mit seiner Frau so telefoniert, wie er es sich immer gewünscht hatte. Er hatte einfach erklärt: »Also hör zu, wir sind noch nicht fertig. Es kann noch zwei oder drei Stunden dauern. Dann komme ich.« Und er hatte aufgehängt. Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie seine Frau mit offenem Mund und fassungslos den Telefonhörer angestarrt hatte. Es brachte wirklich etwas ein, wenn man Horstmanns Ratschlägen folgte und die Ehefrau einfach
Weitere Kostenlose Bücher