Der Mond im See
»Hier, nehmen Sie noch eine Zigarette. Und jetzt erzählen Sie mir das Ganze mal hübsch der Reihe nach. Wann und wo sind Sie diesem Mann, der sich Bondy nannte, das erstemal begegnet?«
»1956. Als wir aus Ungarn kamen.«
»Nach dem Aufstand?«
»Ja. Nach dem Aufstand. Wir flohen damals aus Ungarn.«
»Wer ist wir?«
»Meine Mutter, mein Bruder und ich. Und dann waren wir in der Nähe von Wien in einem Lager. Und da war er auch.«
»Monsieur Bondy, der eigentlich Sergiu hieß.«
»Ja. Er war damals auch herausgekommen. Er hatte so ein paar Leute um sich, mit denen er immer zusammenhockte. Sie machten irgendwelche Geschäfte. Illegale Geschäfte, nehme ich an. Und mein Bruder gab sich mit ihnen ab. Das wollte meine Mutter nicht. Meine Mutter – wissen Sie, das war eine sehr stolze Frau, und sie hatte einen sehr scharfen Blick für Menschen. Und war vielleicht auch etwas hochmütig. Sie sagte zu meinem Bruder: Das ist kein Umgang für dich. Das ist Gesindel. Und mein Bruder sagte: Die Zeiten der vornehmen Familien sind vorbei. Und wenn wir hier existieren wollen, können wir nicht wählerisch sein im Umgang mit Menschen und in der Wahl unserer Mittel. Und meine Mutter sagte: erst recht. Sie stritten sich wegen dieser Leute, und das war etwas Neues bei uns. Mein Bruder und ich, wir waren gewöhnt, unseren Eltern zu gehorchen. Aber mein Vater war gestorben. Im Gefängnis bei den Roten. Meine Mutter hatte viel durchgemacht. Ich war sehr wütend auf meinen Bruder, daß er sie ärgerte.« Sie senkte den Kopf, blickte vor sich hin und schwieg.
»Und weiter«, sagte ich.
»Weiter nichts. Dieser Sergiu und seine Freunde verschwanden ziemlich bald aus dem Lager. Seitdem habe ich ihn nicht wiedergesehen. Aber als er hier ankam, erkannte ich ihn.«
»Und er? Hat er Sie nicht erkannt?«
»Ich glaube nicht. Ich war damals fünfzehn Jahre alt. Ich hatte noch lange Zöpfe. Und ich hatte einen Verband um die Stirn, weil ich von einem Splitter verletzt worden war. Nein, ich glaube nicht, daß er mich erkennen konnte.«
»Hm.« Ich schwieg eine Weile und überlegte. Dann sagte ich: »Ich denke doch, daß Sie das der Polizei erzählen sollten. Wenn Sie sich nicht getäuscht haben, also das heißt, wenn nicht nur eine große Ähnlichkeit vorliegt und wenn dieser Bondy wirklich der Sergiu von damals ist, dann hätte man doch verschiedene Anhaltspunkte. Vor allem den, daß der Mann unter falschem Namen lebte und daß er vielleicht, falls der Instinkt Ihrer Mutter der richtige war, in irgendwelchen komischen Kreisen verkehrte. Ja – Man könnte sagen«, ich richtete mich elektrisiert auf, denn ich hatte einen großartigen Einfall, »man könnte sogar annehmen, daß er irgendwie mit Spionage zu tun hatte, wenn er aus dem Osten kam. Das wäre doch möglich. Da werden die Leute meist so stillvergnügt umgelegt, wenn sie nicht richtig spuren. Steht jedenfalls in einschlägigen Büchern.«
»Sie meinen, ich soll zur Polizei gehen?« fragte sie kläglich.
»Jetzt überschlafen Sie es erst mal. Morgen werden wir überlegen, was Sie tun. Machen Sie sich weiter keine Sorgen. Ihnen kann man keinen Vorwurf machen. Sie müssen halt sagen, Sie wissen es nicht sicher, wollen es aber auf alle Fälle berichten. So etwa.«
»Ja«, meinte sie kleinlaut. »Eine blödsinnige Geschichte.«
»Sehr blödsinnig.« Mittlerweile war es ganz dunkel geworden. Wenn ich zum Ruedi wollte, wurde es langsam Zeit.
»Kommen Sie, ich bringe Sie hinauf zum Schloß«, sagte ich.
»Danke, das ist nicht nötig.«
»Besser ist besser. Sie sollten nicht in der Dunkelheit hier rumlaufen. Sie fürchten sich ja doch.«
Erstaunlicherweise gab sie das zu. »Ja. Ich fürchte mich. Heute zum erstenmal.«
»Kein Wunder«, meinte ich, und wie jeder Mann kam ich mir als Beschützer sehr stark und unwiderstehlich vor.
Wir rutschten also vom Boot. Beinahe hätte ich noch Amigos Abendessen vergessen. Aber Ilona erinnerte mich an die Tüte.
»Für Amigo«, sagte ich.
Wir gingen bei den Tennisplätzen und bei dem Stall vorbei. Es war sehr still. Und sehr dunkel. Ich faßte Ilona am Arm, und sie ließ es sich ohne Widerspruch gefallen. Ihre Haut war kühl und glatt.
»Ist Ihnen nicht kalt mit den kurzen Ärmeln?«
»Doch, ein bißchen. Aber ich bin ja gleich da.« Im Schloßhof sagte sie: »Vielen Dank. Und – gute Nacht.«
»Gute Nacht. Schlafen Sie gut. Machen Sie sich keine Sorgen mehr. So wichtig ist es auch wieder nicht.«
Aber so ganz unwichtig fand ich es
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