Der Mond ist nicht genug: Roman (German Edition)
Mantel hinzuhalten.
Sie verzog das Gesicht. »Ich wünschte, das würdest du nicht tun.«
»Ich bin doch der Herrscher der Schönheit der Anarchie, oder nicht? Also benutze ich keine Lesezeichen, und ich gehe auch nicht zu jeder nervtötenden Mobilisierungsparty, die Greg unbedingt schmeißen muss, weil ihm langweilig ist.«
»Jetzt wirst du aber bissig.«
Er half ihr in den Mantel.
»Du weißt, wie er dich anbetet«, sagte sie. »Wie sie alle dich anbeten.«
»Wurdest du mal von vier Dutzend Leuten auf einmal angebetet? Glaub mir, es ist nicht so cool, wie es klingt. Abgesehen davon: Wenn ich bei all diesen Veranstaltungen auftauchen würde, wäre ich nichts Besonderes mehr.«
»Da hast du wohl recht.« Sie beugte sich vor und umarmte ihn höflich. »Tu mir einen Gefallen und halt dich von Ärger fern, ja?«
»Ich glaube, das schaffe ich einen Abend lang auch allein. Ich geh nur mit den Jungs abhängen.«
Sie zögerte. »So bald? Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«
»Darf ich jetzt keine Freunde mehr haben?«
»Du hast doch Freunde.«
»Greg und seine Verrückten sind nicht meine Freunde. Bestenfalls Arbeitskollegen. Auch wenn ich in Wirklichkeit die ganze Arbeit mache.«
»Ja, das tust du. Es ist nur ... du weißt doch, wie wahnwitzig es werden kann, wenn du mit der alten Mannschaft zusammenkommst. Versprich mir bitte, dass du es langsam angehst.«
»Du machst dir zu viele Sorgen. Es ist schließlich nicht das Ende der Welt.«
Sie tätschelte ihm die Brust. »Sorg dafür, dass es das auch nicht wird. Noch nicht jedenfalls.«
Eine ältliche Frau mit wirren grauen Haaren und einem grünen Bleistiftstummel in den welken klauenartigen Fingern kritzelte eine endlose Reihe Zahlen direkt vor Bennys Tür an die Flurwand.
Sie sah von ihrer Arbeit auf und lächelte. In ihren Augen funkelte der Wahnsinn.
»Hallo«, krächzte sie.
Calvin nickte ihr zu. Schon Bennys schiere Gegenwart hatte diese Wirkung auf die Leute. Er verbesserte die Effektivität ihrer matschigen biologischen Gehirne, bis sie wie zwangsneurotische Supercomputer funktionierten. Diese arme Frau arbeitete an einer Gleichung, die das Universum widerlegen sollte. Allerdings hatte sie noch mindestens vierzig Jahre Kritzeln vor sich.
Er klopfte an die Apartmenttür, und ein fetter Wurm mit durchsichtiger Haut, durch die man vielfarbige pulsierende Adern sehen konnte, öffnete ihm. Gliedmaßen umringten seinen Körper in eigenartiger Asymmetrie. Die meisten endeten in Händen, zwei waren aber nur Stümpfe, und eine diente ihm als Nase. Er trug eine Baseballkappe, die er mit Malerkreppband an seinem »Kopf« befestigt hatte. Die Regeln für übergeordnete unheimliche Schreckensgestalten variierten. Calvin ging problemlos als Mensch durch, aber das hatte weniger mit seiner Erscheinung als mit der Trennung von seinem andersweltlicheren Selbst zu tun.
Der Wurm dagegen brauchte eine Verkleidung, damit Sterbliche bei seinem Anblick nicht verrückt wurden. Es war gar nicht viel dazu nötig: ein T-Shirt, eine Kappe, eine Sonnenbrille. Einfach irgendetwas, woran sich der menschliche Verstand festhalten konnte. Calvin fragte sich, ob die Verkleidung selbst eine Illusion schuf, oder ob Menschen die Vorstellung von Benny, einer riesigen glänzenden Nacktschnecke mit Raiders -Kappe so absurd fanden, dass ihre sonderbaren Gehirne beschlossen, es einfach zu akzeptieren und zur Tagesordnung überzugehen. Das Resultat war dasselbe.
Benny sagte: »Cal, wo bleibst du denn?«
Calvin hielt eine Einkaufstüte hoch. »Ich hab uns noch ein paar Snacks geholt.«
Er trat ein, doch bevor Benny die Tür schloss, sagte Calvin zu der Frau: »Sie haben da um die Ecke ein Dezimalkomma vergessen.«
Stirnrunzelnd schlurfte sie davon, um den Fehler zu korrigieren.
Calvin gab Benny die Snacks. »Du solltest vielleicht umziehen, bevor du bei dieser armen Frau irreparable Schäden anrichtest.«
»Würde ich ja gern, aber wo soll ich noch mal so eine gute Wohnung finden? Außerdem hat sie Mietpreisbindung.«
Benny glitt in die Küche, um das Bier in den Kühlschrank zu stellen. Calvin setzte sich neben Swoozie, die Videospiele spielte.
Selbst unter unheimlichen Schreckensgestalten war Swoozie eine der unbegreiflichsten. Ihr Körper schien wenig mehr als eine zufällige Ansammlung von Farben und fremdartigen geometrischen Formen zu sein. Sie hatte sich ein nicht zusammenpassendes Paar Hände geformt, um den Spielcontroller zu halten. Doch es fiel ihr schwer, mit
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