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Der Mondscheingarten

Der Mondscheingarten

Titel: Der Mondscheingarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Corina Bomann
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merkwürdiges Eigenleben entwickelte und er ihre Hand führte, anstatt von ihr geführt zu werden. Die Töne waren klar und präzise, das Tempo genau richtig, und wenn Rose die Augen schloss, konnte sie die bösartig funkelnden Eiszapfen ebenso sehen wie weite Felder, die unter einer zarten, aber mächtigen Schneedecke verborgen waren. Ein Schauer rann durch ihren Körper, als würde sie tatsächlich im Winterwind stehen und beobachten, wie die Sonne hinter einem von dunklen Tannenspitzen gesäumten Horizont verschwand und die Dunkelheit so rasch folgte, als hätte sie einen Mantel hinter sich hergezogen.
    Bevor sie nach England gekommen war, hatte sie keine Vorstellung davon gehabt, wie der Winter in Europa sein würde. Wie Frost sich anfühlte und Schneekristalle, die einem der Wind ins Gesicht blies. Der Winter war auf Sumatra die Zeit des Regens, sie erinnerte sich noch gut an die großen Pfützen, die sie auf ihrem Schulweg umrunden musste, während sie sich mit einem Hut aus Palmblättern vor dem Regen zu schützen versuchte. Trotz des vielen Wassers war es jedoch warm, die Luft so feucht wie die Dampfwolke über einem Suppentopf.
    In England hatte sie schon bald feststellen müssen, dass es auch dort sehr viel Regen gab – aber keinen warmen Regen, der dampfende Berge zurückließ. Der Londoner Regen war eiskalt und der Nebel undurchdringlich, feindlich. Selbst im Sommer hatte Rose in der Anfangszeit sehr oft frierend in ihrer Kammer oder beim Unterricht gesessen.
    Als der Winter kam, ein sehr harter Winter selbst für englische Verhältnisse, lernte sie ein Wunder kennen – vom Frost erstarrtes Wasser. Obwohl die Kälte ihr mehr zusetzte als den anderen Mädchen im Konservatorium, hatte sie Stunden damit zubringen können, das Glitzern des Sonnenlichts im Eis zu beobachten oder Schnee in ihrer Hand schmelzen zu lassen, bis ihre Haut rot und taub war.
    Die weißen Kristalle sah sie nun wieder vor sich, spürte ihre Kälte an den Fingerspitzen und den eisigen Windhauch auf ihrem Gesicht. All diese Empfindungen trugen sie durch das Stück, und es tat ihr beinahe leid, als sie schließlich an seinem Ende angekommen war.
    Erst jetzt bemerkte sie ihren heftigen Atem, das Pochen ihres Herzens und den Druck der Geige unter ihrem Kinn. Es war, als würde sie langsam in ihren Körper zurückkehren, nachdem sie ihn während des Spiels verlassen hatte.
    Ein wenig benommen sah sie sich um, und ihr Mund formte ein zufriedenes Lächeln, als sie sah, dass die Zuschauer sie sprachlos anstarrten. Ob sie in ihnen all jene Emotionen geweckt hatte, die sie selbst gespürt hatte? Sie würde es wohl nie erfahren, und wahrscheinlich gab es auch hier Menschen, die angesichts der Musik nichts fühlten, aber dieser Moment der Sprachlosigkeit, kurz bevor Applaus losbrach, stellte sie zufrieden.
    Dieser Applaus, durchsetzt mit Bravo-Rufen, setzte schließlich ein, etwas später als gewöhnlich, aber wahrscheinlich waren die Leute nicht auf ihr Spiel gefasst gewesen – ganz im Gegensatz zu den Besuchern einer Konzerthalle.
    Rose knickste, wie man es von einer dankbaren Künstlerin erwartete, dann straffte sie sich wieder. In dem Augenblick traf ihr Blick einen jungen Mann, den sie zuvor, versunken in ihr Spiel, nicht bemerkt hatte. Sein Haar hatte einen dunklen Goldton, und seine Augen waren so blau wie das Meer, wenn es einen klaren Sommerhimmel reflektierte.
    In ihrem Leben hatte sie schon viele helle, blonde Menschen gesehen – auch ihre Lehrerin hatte flachsblondes Haar besessen, was sie als kleines Kind ungemein fasziniert hatte. Doch nie zuvor hatte sie einen Menschen gesehen, der dermaßen viel Sonne ausstrahlte wie er.
    Als Rufe nach einer Zugabe ertönten, kam sie wieder zu sich und wandte ihren Blick ab. Sie gab dem Wunsch des Publikums mit einem Nicken nach, und wenig später breitete der »Frühling« seine akustischen Schwingen in dem Festsaal aus.
    Als sie das Stück beendet hatte, kam ein gedrungener Mann zu ihr und schüttelte ihr beinahe etwas grob die Hand. Angesichts der Beschreibung seines Verhaltens und einiger Bemerkungen, die Mai beim Ankleiden fallen gelassen hatte, schloss Rose daraus, dass es sich um van Swieten handeln musste. Himmel, dieser Mann war wirklich einer von der Sorte, die Mädchen in den Hintern kniff, da hatte Carmichael nicht übertrieben.
    Rose übte sich in Zurückhaltung, ließ seine Begeisterung und seine Komplimente mit gesenkten Lidern über sich er­gehen, und wie Mrs Faraday es ihr

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