Der Mondscheingarten
fast so, als würde es ihm nichts ausmachen, schlenderte er zur Tür. Bevor er diese öffnete und wirklich verschwand, drehte er sich aber noch einmal zu ihr um. »Du hast dich mit diesem Havenden rumgetrieben, nicht wahr? Mai hat es mir erzählt.«
Rose war zu überrascht, um etwas zu entgegnen. Ihr Verstand suchte nach einer Ausflucht, war allerdings nicht schnell genug. Wahrscheinlich war Carmichael ihr sogar nachgeschlichen, um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen.
»Du musst dir diesen Kerl aus dem Kopf schlagen!«, schimpfte Carmichael, während er wütend auf sie zustapfte und sie dazu zwang, ein paar Schritte zurückzuweichen. »Weißt du, was für dich auf dem Spiel steht? Du bist eine der besten Geigerinnen der Welt! Wenn du dir jetzt den Kopf verdrehen lässt, wenn du dich von ihm ablenken lässt, wirst du dir alles ruinieren!«
»Wer sagt denn, dass ich mich von ihm ablenken lasse? Wie kommst du nur darauf!« Wütend feuerte sie den Hut auf ihr Bett. Mai würde sie etwas erzählen, wenn sie sie später sah.
»Ich habe gesehen, wie er dich auf dem Empfang angestarrt hat! Und du warst heute mit ihm aus! Was soll das bedeuten?«
»Das bedeutet, dass ich hin und wieder auch ein normales Leben habe und mir nicht ständig wie ein Kleinkind vorschreiben lassen will, wohin ich zu gehen habe!«
Carmichael stieß ein spöttisches Schnauben aus. »Du und ein normales Leben? Du bist Künstlerin, sei froh, dass du kein normales Leben hast! Normalerweise wärst du jetzt schon verheiratet und schwanger, vielleicht schon mit dem zweiten Balg! Sehn dich nicht danach, ein normales Leben zu führen, denn das wirst du glücklicherweise nie haben! Und sollte ich Havenden dabei erwischen, dass er dich ablenkt, werde ich ihm persönlich die Hände brechen!«
Mit diesen Worten stürmte er zur Tür, riss sie auf und verschwand.
Rose starrte ihm fassungslos hinterher. Was sollte das? Er kümmerte sich doch sonst nicht um ihre Verehrer, warum denn gerade jetzt?
Seufzend ließ sie sich auf das Sofa sinken, in dem noch die klamme Wärme von Carmichael steckte. Tränen krochen in ihre Augen, doch als sie ihr die Sicht zu nehmen drohten, sprang sie trotzig auf.
Ich werde es ihm beweisen, dachte sie. Ich werde ihm beweisen, dass ich nicht auf die Freuden des normalen Lebens verzichten muss. Du wirst schon sehen, Sean Carmichael!
13
Cremona 2011
Ein grauer Winterhimmel spannte sich über die Stadt, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Lilly und Ellen erhoben sich von ihren Sitzen und nahmen ihre Koffer von der Gepäckablage.
Behutsam klemmte sich Lilly den Geigenkasten unter den Arm. Sie war noch immer nicht sicher, ob es eine gute Idee war, das Instrument bei sich zu tragen. Vor ein paar Tagen hätte ihr das wahrscheinlich nichts ausgemacht, doch nun wusste sie, dass die Geige einen Wert hatte – wenn vielleicht keinen großen finanziellen so doch einen ideellen, insbesondere für Gabriel. Ging der Geigenkoffer verloren, würde die Geige wahrscheinlich wieder für viele Jahrzehnte verschwinden – und damit auch das Rätsel um Rose Gallway.
Ellen war allerdings dabei geblieben, dass es besser sei, wenn sie ihrem Bekannten das Original und keine Fotos zeigten. Noch in Heathrow war es Ellen gelungen, Enrico di Trevi, so der Name des Mannes, zu kontaktieren. Er hatte die beiden Frauen in sein Haus nahe dem Palazzo Trecchi eingeladen und versprochen, ihnen bei ihrer Suche nach Rose Gallway zu helfen.
Während des Fluges nach Mailand hatten sie sich dann einen Plan zurechtgelegt, wie sie das Wochenende am besten nutzen konnten, um möglichst viel über die Geigerin herauszufinden. »Vielleicht gibt es ja irgendwelche alten Zeitungsartikel«, hatte Ellen fröhlich gemutmaßt. »Enrico kann sie uns übersetzen. So, wie ich ihn einschätze, würde er wahrscheinlich alles dafür tun, diese Geige mit eigenen Augen zu sehen.«
Als der Zug zum Stehen kam, drängten sie zusammen mit den anderen Passagieren dem Ausgang entgegen. Italienische Wortfetzen umschwirrten Lilly und riefen die Erinnerung an eine Reise mit Peter in ihr Gedächtnis zurück. Damals waren sie noch Studenten gewesen und hatten eine Rucksacktour durch die Toskana gemacht – ohne auch nur ein Wort Italienisch zu verstehen.
Die Sprache konnte sie noch immer nicht, und die Gedanken an Peter riefen ein bittersüßes Ziehen in ihrer Brust hervor. Rasch drängte sie die Empfindung beiseite. Jetzt war nicht der passende Augenblick dafür. Vielleicht konnte
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