Der Mondscheingarten
sie sich heute Abend erlauben, in Erinnerungen zu versinken, jetzt mussten sie erst einmal sehen, dass sie Ellens Freund fanden.
Der Cremoneser Bahnhof war etwas Besonderes, das merkte Lilly schon, als sie die Halle durchschritten. Er war mehr als hundert Jahre alt und dank der hohen Rundbogenfenster vollkommen lichtdurchflutet. Es fiel ihr leicht, sich vorzustellen, wie die Passagiere früherer Tage über den glänzenden Steinboden eilten: Frauen in ausladenden Tournürenröcken und mit schleifengeschmückten Hüten auf dem Kopf, Herren in schmal geschnittenen Gehröcken. Mädchen in gestärkten Kattunkleidern, die mit Jungs in Kniehosen spielten. Dazwischen Zeitungsjungen mit Schiebermützen, die lauthals die neueste Ausgabe irgendeines Käseblattes anpriesen.
Das Bild verschwand, als sie den Bahnhof verließen und Lilly einen Blick auf den etwas trostlos wirkenden Vorplatz warf, der in Frühling und Sommer sicher einen wunderbaren Anblick abgab.
Autos hupten in der Nähe, Motorroller knatterten vorbei. Ganz in der Nähe befand sich ein Taxistand.
Bevor sie diesem zustrebten, wandte sich Lilly noch einmal nach dem Bahnhof um, dessen gelber Anstrich der einzige Farbtupfer im winterlichen Grau zu sein schien. Das Gebäude erinnerte sie mit seinen Rundbögen an einen kleinen Palast.
»Lilly, komm, dahinten ist ein Taxi frei!«, tönte Ellens Stimme zu ihr herüber. Als sie sich umwandte, sah sie, dass Ellen bereits mit langen Schritten zu dem Fahrzeug eilte.
Das Haus, in dem Enrico di Trevi wohnte, musste früher mal die Wohnstätte eines Adligen oder zumindest eines sehr reichen Mannes gewesen sein, denn dem benachbarten Palazzo stand es in Größe und Pracht nur geringfügig nach. An der zur Straße gewandten Fassade befanden sich zahlreiche Verzierungen, Balkone und Figuren. Zwei Atlanten trugen das leicht hervorspringende Dach. Die Butzenfenster wirkten auf den ersten Blick wie Originale aus längst vergangener Zeit, doch dazu wirkten die Scheiben zu klar, das sie verbindende Blei zu neu.
Lilly schätzte, dass das Haus im 17. Jahrhundert erbaut worden war. Ein Riss hatte sich an der linken Seite in die Mauer gefressen, vielleicht stammte er sogar von einem Erdbeben. Ansonsten war das Haus in einem guten Zustand und gab ihr das Gefühl, Geschichte einatmen zu können.
Lilly hatte angenommen, dass Ellens Bekannter ebenso wie Ben Cavendish ein alter Mann sein würde. Umso überraschter war sie, als sie ein attraktiver Mittvierziger an der Tür empfing. Er trug Jeans und ein schwarzes Hemd, was zu seiner leicht gebräunten Haut einfach umwerfend aussah. Sein rabenschwarzes Haar trug er halblang, seine Augen schimmerten wie zwei Silbermünzen.
»Buon giorno, Ellen!«, rief er aus und schloss ihre Freundin in seine Arme. So herzlich, dass Lilly fast schon glaubte, ein Liebespaar vor sich zu haben, das sich schon sehr lange nicht mehr gesehen hatte. »Du bist ja schnell wie der Wind!«
Lilly fand, dass er erstaunlich gut Deutsch sprach.
»Bedank dich bei der italienischen Bahn«, entgegnete Ellen und wandte sich dann Lilly zu. »Das ist die Freundin, von der ich dir erzählt habe. Lilly Kaiser. – Lilly, das ist mein Freund Enrico.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Di Trevi antwortete mit einem Handkuss – was das Letzte war, das Lilly erwartet hätte. »Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite. Warum hast du mir verschwiegen, dass du so eine hübsche Freundin hast?«
»Wahrscheinlich, weil ich bisher noch nie die Gelegenheit hatte, mit dir über sie zu sprechen.« Ellen zwinkerte Lilly zu. »Aber vielleicht sollte ich ihr mal erzählen, was für ein Süßholzraspler du bist.«
»Meinst du etwa, ich lüge?«
»Das habe ich nicht behauptet!«
Ehe es sich Lilly versah, legte ihr di Trevi den Arm um die Schultern. »Was sagen Sie dazu? Ist es nicht das Recht eines Mannes, einer schönen Frau zu sagen, dass sie schön ist?«
»Ähm …«
»Ach Enrico, du bist immer noch der Gleiche geblieben«, sagte Ellen und zerrte ihn dann von Lilly weg. Dieser klopfte das Herz bis zum Hals, und sie ärgerte sich darüber, dass ihre Wangen sicher so rot wie Tomaten glühten. Als wäre sie noch ein Teenager!
»Du musst wissen, dass Enrico der geborene Entertainer ist«, erklärte Ellen derweil.
Er trat beiseite, um sie einzulassen. Dabei zwinkerte er Lilly verschmitzt zu.
Im Gegensatz zum alten Äußeren war seine Wohnung weitestgehend modern eingerichtet. Hier und da gab es ein altes Möbelstück, das
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