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Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist

Titel: Der Monstrumologe - Der Monstrumologe - The Monstrumologist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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Umschlag zurück und presste meinen Daumen fest auf das Wachssiegel, ein aussichtsloses Unterfangen, denn nach fast dreiundzwanzig Jahren war es so hart wie ein Nagel. Die Umschlagklappe sprang einen halben Zoll weit auf. Ich legte den Brief in den Koffer und verstreute ein paar seiner jungfräulichen Kollegen darüber.
    Es würde mir alles bedeuten. Anscheinend hatte es das seinem Vater nicht. Was der Sohn schrieb, ignorierte der Vater. War er tatsächlich unterwegs auf irgendeinem Abenteuer während der Zeit, als Warthrop in London war, ein Junge ungefähr in meinem Alter, einsam und des Vertrauten beraubt, der sich danach sehnte, ein paar Neuigkeiten von seinem weit entferntenZuhause zu hören? Und falls ja, warum hatte der ältere Warthrop diese Briefe dann nicht bei seiner Rückkehr geöffnet? Warum hatte er sie überhaupt behalten, wenn er sich nichts aus seinem Sohn machte? Die Ironie entgeht mir nicht, dass ich diesen Brief auf der Suche nach Hinweisen geöffnet, jedoch das Rätsel, dessen Lösung ich darin gesucht, nur vertieft hatte.
    Aber ihn zu lesen hatte eins bewirkt. Wie es so oft der Fall ist, sind die Einsichten, die wir suchen, nicht die, die wir finden: Ich sah ihn deutlich vor mir, wie er in seinem Nachthemd auf seinem kleinen Bett kauerte und, von Hustenkrämpfen geschüttelt, fieberhaft diesen Brief schrieb, ein Junge, der mir nicht unähnlich war, weggerissen von Familie und Freunden, mit nichts und niemand, um ihn zu trösten. Zum ersten Mal empfand ich etwas anderes als Angst oder Ehrfurcht vor dem Monstrumologen. Zum ersten Mal empfand ich Mitleid. Die Vorstellung des kranken, kleinen Jungen, der so weit weg von zu Hause war, tat mir in der Seele weh.
    Meine Gefühle sollten kurzlebig sein. Kaum hatte ich das erbrochene Sendschreiben begraben, als der Doktor die Treppe heruntergesprungen kam und ins Zimmer wirbelte.
    »Will Henry! Was machst du da?«
    »Nichts – nichts, Sir!«, stammelte ich.
    »Nichts! Wieder machst du, wenn ich dich frage, was du machst, nichts! Das scheint deine Hauptbeschäftigung zu sein, Will Henry.«
    »Ja, Sir. Ich meine, nein, Sir! Es tut mir leid, Sir. Ich werde damit aufhören.«
    »Womit aufhören?«
    »Nichts zu machen.«
    »Du bist mir nicht von Nutzen, wenn du dich jedes Mal, wenn ich dir etwas auftrage, dazu entschließt, das Gegenteil zu machen. Mach fix! Es ist ein Ritt von gut drei Stunden bis nach Dedham.«
    Er wartete keine Antwort ab, sondern floh durch die Dielein Richtung Küche. Ich hörte die Kellertür zuschlagen. Mit vor Scham brennendem Gesicht beeilte ich mich, meine Arbeit zu Ende zu bringen, und warf die Raritäten und Andenken in den Schrankkoffer zurück, wobei ich ohne Zaudern und Rücksicht auf meine angeborene Zimperlichkeit auch den Schrumpfkopf vom Boden auflas. Er war viel leichter, als ich erwartet hatte. Ich fragte mich, welche Geschichte hinter diesem Genossen unbestimmbarer Herkunft wohl stecken mochte. War er ein Geschenk an den älteren Warthrop vom Häuptling irgendeines Stamms von Wilden, dem er auf seinen Reisen behilflich gewesen war, oder gab es eine persönlichere Verbindung? Es war unmöglich, Alter und Geschlecht des Kopfes zu bestimmen, und die Rassemerkmale waren vom Lauf und Walten der Zeit ausgelöscht worden, jener großen Gleichmacherin, die unsere irdischen Unterscheidungen ad absurdum führt: König und Leibeigener; Mann und Frau; Held, Schurke und Narr. Zurück in deine Kiste, anonymer Yorick, mit deinen zugenähten Augen und deinem erstarrten Schrei! Die Würdelosigkeit deiner Internierung ist nicht schlimmer als unsere.
    Ich pfefferte den Kopf in die Kiste. Er prallte von einer Seitenwand ab, bevor er herunterfiel, rollte herum und kam auf den anderen Gegenständen im Koffer zur Ruhe. Offenbar hatte die Wucht des Aufpralls den Gegenstand gelöst, der in der Höhlung des winzigen Schädels gesteckt hatte, denn auf einmal wurde ich eines Stücks leuchtend roten Stoffs gewahr, das aus dem Hals herausragte. Ich nahm den Kopf wieder heraus, ergriff das Ende des Tuchs und zog daran, bis der Gegenstand, an dem das andere Ende festgebunden war, aus seinem ausgezehrten Kokon befreit war. Es war ein Schlüssel – zu was, wusste ich nicht, aber er war zu groß, um zum Schrankkoffer oder einer Tür zu gehören.
    »Will Henry!«, rief der Doktor von der Kellertreppe.
    Ich ließ den Kopf wieder in den Koffer fallen und zwängte den Schlüssel in meine Tasche. Ich würde ihn ihm später zeigen, beschloss ich. Er hatte

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