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Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo

Titel: Der Monstrumologe und der Fluch des Wendigo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rick Yancey
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die Stunde des Drecks, wo aus den Fenstern der Reihenhäuser und Mietskasernen der Nachtschmutz aus Abertausenden von Nachttöpfen direkt auf die Straße gekippt wurde, wo die zwei Millionen Pfund Mist, am Vortag produziert von hunderttausend Pferden, sich in stinkenden, vier Fuß hohen Verwehungen anhäuften – so hoch in manchen Vierteln, dass ein Mensch seine in einem Haus ohne Fahrstuhl gelegene Wohnung im ersten Stock hätte betreten können, ohne die Treppe zu benutzen. Die Stunde, wo Frachtkarren durch Furchen rutschten, die sich in den schlammigen Abfall gegraben hatten und die Überreste jener Pferde trugen, die genug verwest waren, um auseinandergebrochen und ins Tierkörperverwertungshaus gebracht zu werden. Das durchschnittliche Pferd wog fünfzehnhundert Pfund, zu klobig, um es als Ganzes fortzuschaffen, und deshalb ließ man es üblicherweise auf der Straße an der Stelle verfaulen, wo es gestorben war, ein aufgedunsenes, stinkendes Festmahl für die »Königin des Misthaufens«, die Typhusfliege, bis der Kadaver mühelos zerstückelt und weggekarrt werden konnte.
    Es war die Stunde des Drecks. Das durchschnittliche Arbeitspferd produzierte jeden Tag vierundzwanzig Pfund Mist und mehrere Liter Urin. Die schiere Ungeheuerlichkeit dieses Abfalls bedrohte die menschliche Bevölkerung mit dem Untergang, denn der Abfall gebar die vergifteten Früchte von Cholera, Typhus, Gelbfieber, Fleckfieber und Malaria. Die Menschen starben buchstäblich wie die Fliegen – zwanzigtausend jedes Jahr, die meisten davon Kinder –, während die Fliegen selbst gediehen.
    Jeden Morgen wurde der Mist gesammelt und in spezielle Auffangbereiche geschafft, »Dungblocks« genannt, wo er auf den Transport über die Brooklyn Bridge wartete. Der größte Dungblock befand sich an der Zweiundvierzigsten Straße, einen Block von dem Ort entfernt, wo hunderttausend Menschen ihr Trinkwasser herbekamen, dem Croton Reservoir.
    Des Doktors sorgenvolles Profil … der kalte Wind vom Fluss … »Ich hätte es wissen müssen … Ich hätte es ahnen müssen.«
    Im Frühjahr verwandelte der Regen die Straßen in Moräste aus Schlamm und Dung, und »Reifrockfeger« machten Wege für die wohlhabenden Damen in ihren ausladenden Kleidern frei, damit deren Pracht nicht schmutzig wurde. Bei trockenem Wetter wehten Staubstürme aus pulverisiertem Mist durch die breiten Boulevards oder schwebten wie die Vulkanasche Pompejis durch die Luft, lagerten sich halbzolldick auf Fensterbänken und den Ständen der Obsthändler und Wurstverkäufer ab, Partikel, die fein genug waren, um eingeatmet zu werden. In dieser der stolzesten Stadt Amerikas atmete man buchstäblich Scheiße.
    Die Schreie der Fuhrmänner. Die Flüche der Rollkutscher. Der raue Ruf der Raben. Und der Doktor neben mir: »Ich hätte es wissen müssen … Ich hätte es ahnen müssen.«
    Der schwindelerregende Gestank der sechs Fuß hohen, stadtblocklangen Dämme aus Dreck, ein widerliches Miasma aus Müll, Exkrementen und Tierteilen – und das unerträgliche Summen von einer Million Schmeißfliegen …
    Eine stämmige Gestalt in Schwarz tauchte vor dem Hintergrund jener wurmverseuchten Replik von Dantes Hölle auf, dem größten Dungblock an der Zweiundvierzigsten Straße. Der Monstrumologe sprang aus der Kutsche und pöbelte Oberinspektor Byrnes an.
    »Wo?«, fragte Warthrop herrisch.
    Byrnes zeigte auf die Hügelkuppe, und Warthrop machte sich auf den Weg den rutschigen Hang hinauf. Es war ein mühsames Klettern; er sank bis zu den Waden im Mist ein.
    »Nein! Bleib da!«, rief er mir zu, als ich Anstalten machte, ihm zu folgen. Byrnes pflichtete ihm wohl bei, denn er legte mir eine mächtige Hand auf die zitternde Schulter, während seine vollen Lippen den erloschenen Stummel seiner Zigarre bearbeiteten.Ich sah den Kopf des Doktors hinter dem Horizont von Abfall verschwinden. Nur ein Augenblick konnte verstrichen sein, aber es kam mir wie eine Ewigkeit vor, ehe ich seinen Schrei hörte – ein Geräusch, anders als alles, was ich jemals gehört habe. Es war schwer vorstellbar, dass ein Mensch ein solches Geräusch hervorbringen konnte. Es gehörte nicht zu unserer Rasse, sondern zu dem armen Tier im Schlachthaus. Dieser gequälte Schrei war mächtiger als die Gewalt des großen Mannes über mich; es zog mich zu ihm hin, aber Byrnes erwischte mich am Mantel, bevor ich besonders weit kommen konnte, und zerrte mich zurück.
    »Keine Bange, Junge. Er wird runterkommen. Er kann sonst nirgends

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